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Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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»Doktor Carlos« und fragte, ob ich auch ihm den Puls fühlen wolle. Er sagte, daß das, was ich gespürt hatte, die Kraft der Blätter sei und daß diese Kraft mich gereinigt und befähigt habe, meine Aufgabe zu vollbringen. Überzeugt versicherte ich, nichts Besonderes getan zu haben; ich hatte mich nur an dieser Stelle hingesetzt, weil mir die Farbe des Sandsteins gut gefiel.
    Don Juan schwieg. Er stand ein paar Schritte von mir entfernt. Plötzlich sprang er  zurück und rannte zu einem nahe gelegenen Felskamm, wobei er unglaublich gewandt über etliche Büsche sprang. »Was ist los?« fragte ich beunruhigt. 
    »Gib acht, in welche Richtung der Wind deine Blätter weht«, sagte er. »Zähle sie  schnell. Der Wind kommt schon. Behalte die Hälfte und leg sie wieder an deinen Bauch.«
    Ich zählte zwanzig Blätter. Zehn steckte ich mir unter das Hemd, und dann verstreute ein starker Windstoß die übrigen in westlicher Richtung. Als ich sah, wie die Blätter davontrieben, hatte ich das unheimliche Gefühl, daß ein reales Wesen sie absichtlich in die amorphe grüne Masse des Buschwerks fegte. Don Juan kam zu mir zurück und setzte sich zu meiner Linken, das Gesicht nach Süden gewandt. Lange sprachen wir kein Wort. Ich wußte nichts zu sagen. Ich war erschöpft. Ich wollte die Augen schließen, aber ich wagte es nicht. Don Juan hatte meinen Zustand wohl bemerkt und sagte, ich könne ruhig einschlafen. Er meinte, ich solle die Hände auf den Unterleib über die Blätter legen und versuchen mir einzubilden, ich liege schwebend auf dem Strahlenbett, das er mir an »meinem Platz« bereitet hatte. Ich schloß die Augen, und es überkam mich die Erinnerung an die Ruhe und Vollkommenheit, die ich erlebt hatte, als ich auf jenem anderen Gipfel schlief. Ich wollte feststellen, ob ich dieses Gefühl des Schwebens tatsächlich spüren konnte, doch ich schlief ein.
    Kurz vor Sonnenuntergang erwachte ich. Der Schlaf hatte mich erfrischt und gestärkt. Auch Don Juan war eingeschlafen. Gleichzeitig mit mir öffnete er die Augen. Es war windig, aber ich fror nicht. Die Blätter auf meinem Bauch hatten offenbar als Ofen, als eine Art Heizung gewirkt.
    Ich inspizierte die Umgebung. Der Rastplatz, den ich gewählt hatte, sah aus wie eine kleine Wanne. Man konnte darauf sitzen wie auf einem langen Sofa; der Steinwall war hoch genug, um als Rückenlehne zu dienen. Ich stellte auch fest, daß Don Juan meinen Schreibblock geholt und unter meinen Kopf geschoben hatte. »Du hast den richtigen Platz gefunden«, sagte er lächelnd. »Und das ganze Unternehmen ging so vonstatten, wie ich es dir gesagt hatte. Die Kraft führte dich hierher, ohne, daß du selbst einen Plan hattest.«
    »Was waren das für Blätter, die du mir gabst?« fragte ich. Die Hitze, die von den Blättern ausstrahlte und die mich ohne Decken und ohne besonders feste Kleidung so angenehm gewärmt hatte, war wirklich ein Phänomen, das mich fesselte. »Es waren einfache Blätter«, sagte Don Juan. »Willst du damit sagen, ich könnte Blätter von jedem beliebigen Busch nehmen, und sie würden die gleiche Wirkung auf mich haben?«
    »Nein, ich sage nicht, daß du dies selbst tun kannst. Du hast keine persönliche Kraft. Ich sage nur, daß die Sorte der Blätter keine Rolle spielt, nur muß derjenige, der sie dir gibt, persönliche Kraft besitzen. Was dir heute geholfen hat, das waren nicht die Blätter, sondern die Kraft.«
»Deine Kraft, Don Juan?«
    »Ich glaube, man kann schon sagen, daß es meine Kraft war, obgleich das nicht ganz richtig ist. Kraft ist nichts, was einem einzelnen gehört. Einige Menschen können sie sammeln und sie dann direkt einem anderen weitergeben. Du siehst, das Geheimnis der gespeicherten Kraft liegt darin, daß sie nur benutzt werden kann, um einem anderen zu helfen, Kraft zu speichern.« Ich fragte ihn, ob dies bedeute, daß seine Kraft sich nur darauf beschränkte, anderen zu helfen. Don Juan erklärte geduldig, er könne seine persönliche Kraft nach Belieben einsetzen, wofür er immer  wolle, aber wenn es darum gehe, sie direkt an einen anderen weiterzugeben, sei sie nutzlos, sofern der Betreffende sie nicht dazu benutze, selbst Kraft zu suchen. »Alles was ein Mensch tut, hängt von seiner persönlichen Kraft ab«, fuhr Don Juan fort. »Für jemanden, der keine besitzt, sind daher die Taten eines mit Kraft ausgestatteten Mannes unglaublich. Man braucht schon Kraft, um auch nur zu begreifen, was Kraft ist. Das versuche ich dir ja die

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