Rette meine Seele - Vincent, R: Rette meine Seele
Gehaltsscheck übrig waren. Ich stopfte das Geld in die Hosentasche. Normalerweise vermittelte mir so ein Bündel Geldscheine eine gewisse Sicherheit; ich wusste, ich konnte im Notfall tanken oder mir eine Busfahrkarte kaufen. Heute dagegen fühlte ich mich immer noch furchtbar unvorbereitet.
Was mir fehlte, war eine Waffe. Aber das Gefährlichste beiuns im Haus war das große Fleischermesser in der Küche, und damit würde ich in der Unterwelt nicht weit kommen.
Ich band mein Haar zum Pferdeschwanz, zog die Jacke über und atmete tief durch. Es konnte losgehen.
Mein Herz schlug wie verrückt, und ich konnte vor Angst kaum atmen. Dad würde wahrscheinlich aufwachen, wenn ich durch die Haustür verschwand, aber wen oder was würde ich erst aufscheuchen, wenn ich die Unterwelt betrat? Harmony hatte von einem leeren Feld gesprochen, aber vielleicht täuschte sie sich ja. Vielleicht hatten sich die Dinge verändert, seit sie das letzte Mal drüben gewesen war.
Ich verdrängte die Angst und straffte die Schultern. Die Höhle des Löwen betrat man am besten, indem man einen Fuß vor den anderen setzte.
Ich schloss die Augen und dachte an den Tod. Es fühlte sich an, als würde ich mit dem Kopf voran in ein Becken voller Schmerz und Grauen tauchen und untergehen. In all dem Kummer ertrinken. Doch ich schaffte es, meine Gefühle in den Griff zu bekommen und den Schmerz in geordnete Bahnen zu lenken. Sophie . Emma . Und meine Mutter – das wenige, woran ich mich erinnerte. Die Erinnerung an ihre Seelenlieder brodelte in mir hoch. Dunkelheit umfing mich, als die ersten Töne aus meiner Kehle drangen.
Ich presste schnell die Lippen aufeinander, um den Ausbruch des ohrenbetäubenden Kummergeschreis zu verhindern. Mein Vater durfte mich nicht hören, sonst wäre alles vorbei. Also schluckte ich die Töne herunter, so wie Harmony es mir gezeigt hatte, drängte sie zurück in mein Herz, wo der Schrei widerhallte und an meiner bröckelnden Selbstbeherrschung nagte.
Diesmal ging es viel leichter, genau wie Harmony es versprochen hatte. Oder wovor sie mich gewarnt hatte. Der Unterweltsnebelstieg vor mir auf und legte sich wie ein grauer Filter in unterschiedlich dunklen Schattierungen über mein Bett, die Kommode und den Schreibtisch. Jetzt musste ich meinem Gesang nur noch die Absicht beimischen, die Welten zu wechseln.
Was auch immer damit gemeint war …
Ich möchte gerne hinübergehen, dachte ich und schloss die Augen. Doch als ich sie wieder aufschlug, stand ich immer noch in meinem Zimmer.
Mit einem geheimen Passwort wäre das alles viel einfacher. Unterwelt, öffne dich!
Okay, das funktionierte auch nicht.
Also noch mal Augen zu und den Schrei unter Kontrolle halten. Nur ein Hauch von einem Wimmern drang aus meinem Mund, wie ein dünner Faden Unterweltsenergie, der durch mich den Weg in die Menschenwelt fand. Wenn ich ihm nachging, wie einem Pfad aus Brotkrumen, würde er mich bestimmt ans Ziel führen.
Doch ich war schon auf dem Weg …
Ich spürte einen kühlen Lufthauch auf dem Gesicht und öffnete die Augen. Vor lauter Schreck verschluckte ich mich am eigenen Wehklagen und rang hustend nach Luft.
Mein Zimmer war verschwunden. Genau wie das Haus. Wände, Türen, Möbel – alles weg. Sogar mein Vater.
Ich stand mitten auf einem großen Feld, auf dem eine mir unbekannte Getreidesorte wuchs. Das Getreide stand so hoch, dass mich die dünnen Ähren an den Ellbogen kitzelten. Und ich wusste, ohne mich zu bewegen, dass es höllisch wehtun würde hindurchzulaufen.
Es machte ein raues, schabendes Geräusch, als ich mit den Fingern prüfend über die Ähren fuhr. Die Halme selbst waren steif und spröde und fühlten sich seltsam kühl an, als würdensie von einem kalten Wind genährt und nicht von der Sonne. Und sie waren auch nicht grün wie bei uns, nicht einmal herbstlich braun wie am Ende des Sommers. Das ganze Feld hatte eine erdige, olivgrüne Farbe, die nach unten hin ins Bräunliche wechselte.
Neugierig knickte ich eine Ähre ab, und sie zerbrach mit einem hörbaren Knacken unter meinen Fingern. Sie zerbröselte nicht etwa. Sie zersprang in Hunderte winziger, kalter Pflanzensplitter, die beim Hinabfallen wie winzige Glöckchen klimperten.
Einer der scharfkantigen Splitter blieb mit der Spitze in meiner Jeans stecken. Als ich ihn wegwischen wollte, bohrte er sich nur noch tiefer in die Haut. Behutsam zog ich ihn mit den Fingerspitzen heraus, wobei sich zu meinem Erstaunen ein kleiner Blutfleck auf meiner
Weitere Kostenlose Bücher