Return Man: Roman (German Edition)
wieder. Er wusste aber, dass diese gnädige Ahnungslosigkeit nicht lange anhalten würde. Es war, als würde man sich in die Hand schneiden: Es dauerte eine Weile, bis man das Blut fließen sah. Alles wirkte geradezu penetrant vertraut– ein Einkaufszentrum, ein italienisches Restaurant namens Bella, eine Drogerie, eine Fahrschule, ein Toyota-Händler und sogar so profane Details wie Ampeln und Hydranten. Er hatte das Gefühl, dass sein Gedächtnis sich mit der Schulter gegen eine geschlossene Tür im Bewusstsein stemmte, um etwas zurückzuhalten. Er konzentrierte sich auf die Straße; die doppelte gelbe Linie zwischen den Fahrspuren hatte eine beruhigende Wirkung. Er konnte sich darauf fixieren, ohne an etwas Bestimmtes zu denken.
Bis der Versuch, die Erinnerungen zu verdrängen, schließlich scheiterte und er von ihnen überwältigt wurde. Es gab hier zu viele Phantome, vor allem in der Innenstadt, die ihre geisterhaften Arme um ihn schlangen. Er zuckte bei der Erinnerung zusammen. Die Eisdiele, die er und Danielle in einer schwülen Julinacht besucht hatten. Das schäbige Kino, wo sie sich eine zweite Uraufführung ihres ersten Films, Next to Nothing, angesehen hatten. Yale Street– ein paar Kilometer südlich in dieser Straße hatte ihr Vater gewohnt. Die Straßen und Gebäude machten einen tristen und desolaten Eindruck, waren mit Abfall und Schmutz übersät. Schaufenster waren eingeschlagen.
Plötzlich stach ihm eine seltsame Gestalt ins Auge. » Was zum Teufel ist das?«, fragte er grunzend.
Auf dem Gehweg vor einem Waschsalon war eine Leiche ohne Arme. Sie lag auf dem Rücken in einem eingedickten Morast aus schwarzem Blut und sonstigen Körperflüssigkeiten. Sie sah tot aus– mausetot. Sie regte sich nicht. Man hatte ihr den Bauch aufgerissen, sie ausgeweidet und die Organe entnommen. Die glitschigen Rippen ragten aus dem Torso, und es fehlte auch ein großes Stück des Halses. Der Hirnstamm war durchtrennt worden. Die Wundränder waren zerfetzt. Bisswunden. Sie waren noch frisch. Ganz frisch.
» Interessant«, bemerkte Wu. Marco fuhr herum. Er hatte fast vergessen, dass er den Sergeant als Mitfahrer hatte; in der letzten Stunde hatte er kein einziges Wort gesagt. Doch nun war Wu wieder wach und präsent. » Ich wusste gar nicht, dass sie sich auch gegenseitig auffressen.«
» Das tun sie auch nicht. Nicht dass ich wüsste. Das muss wieder so ein Trick sein.«
Die Leiche starrte mit toten Augen in den Himmel. Von ihr war keine Antwort zu erwarten.
» Fahren wir«, sagte Marco, den ein mulmiges Gefühl beschlichen hatte. Er beschleunigte und fuhr in westlicher Richtung davon.
Einen Straßenzug weiter hörte er irgendwo eine andere Leiche heulen, und ihm sträubten sich die Nackenhaare. Er warf einen Blick zum Himmel; es war für kalifornische Verhältnisse ein ungewöhnlich grauer und bewölkter Tag, ohne den üblichen hellen Sonnenschein. Gott sei Dank waren aber keine Geier zu sehen.
Die gelbe Linie brach an der Kreuzung zur San-Jacinto-Avenue ab. An der Ecke war ein Lieferwagen mit dem Logo eines Blumenladens gegen die Ampel geprallt.
Marco hielt den Atem an und bog rechts ab.
» Doktor! Sie sind vom Weg abgekommen.« Wus körperlose Stimme hinter ihm war wie ein Ordnungsruf des Gewissens, der ihm in den Ohren dröhnte. Vom rechten Weg ab! Vom rechten Weg ab!
Er ignorierte Wu. Im nächsten Moment verspürte er einen eisenharten Griff um den Ellbogen.
» Die Route 74 führt geradeaus weiter«, sagte Wu knurrend.
» Ich weiß. Ich muss aber mal anhalten.«
» Da ist eine Tankstelle…«
» Ja, das auch. Aber ich muss vorher noch etwas überprüfen. Etwas anderes.«
Bis zur Hälfte des nächsten Straßenzuges hielt Wu still, obwohl seine Missbilligung das Kreischen des Quad-Motors zu übertönen schien.
» Wohin fahren wir, Doktor?«, fragte Wu schließlich in angespanntem Ton. Marco hörte die unausgesprochene Drohung aus der Frage heraus. Sie sollten mir lieber eine zufriedenstellende Antwort geben.
Fick dich, erwiderte Marco stumm. Er hatte genug von Wus Schwachsinn. Ich habe meine eigenen Probleme, und Roger Ballards toter, kalter Körper kann noch warten. Wu und Osbourne konnten auch noch warten. Meine Güte, sie schuldeten ihm diesen Abstecher…
Plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz im Nacken, als wäre er mit einer Rasierklinge geschnitten worden.
Es war aber eine Messerklinge.
Wu hatte das Messer zwischen Marcos erstem und zweitem Halswirbel angesetzt, direkt
Weitere Kostenlose Bücher