Return Man: Roman (German Edition)
von der Seite. Sein Mit-Überlebender. Sein unfreiwilliger Partner. Marco hatte ihm das Leben gerettet und das nicht nur einmal. In Salton, im Gefängnishof, auf der Galerie des Zellenblocks. Ob Wu ohne Marco bis heute überlebt hätte, auch wenn der Mann noch so spontan und unprofessionell agierte?
Natürlich, dachte Wu. Dieser Gedanke war geradezu ein Affront. Ich hätte nicht versagt.
Doch ein kleines Stimmchen in seinem Kopf widersprach ihm.
Nein. Du hast ihn gebraucht.
Seine Gedanken schweiften ab, und er erinnerte sich daran, wie er gestern Morgen mit Marco auf dem Friedhof gewesen war. Die beiden Männer hatten Schulter an Schulter in der Kapelle gesessen und den Toten Ehre erwiesen; die Trauer im Herzen des Amerikaners hatte ihn kurz selbst gerührt. Wu hatte versucht, das Leiden des Mannes zu lindern.
Aber ich werde ihn töten, sagte Wu sich noch einmal. Ich werde den Impfstoff an mich nehmen und ihn töten.
Plötzlich überkam ihn eine ganz spezielle Erinnerung. An seine erste Mission, die schon so lange her war. Tenzin Dawa, der Mönch, der gegen die Eisenbahn protestiert hatte und vor Wus Füßen gestorben war. Der kahl rasierte Kopf, das runzlige Gesicht, die flatternden Augenlider, als das Blut aus der durchschnittenen faltigen Kehle schoss. Wie die orangefarbene Kutte sich blutrot verfärbt hatte. Wus blutige Hände hatten noch Stunden danach gezittert; er hatte dieses Leben überhaupt nicht auslöschen wollen. Aber China hatte ihn gebraucht. Die Eisenbahn war gebaut worden.
Und nun brauchte China ihn wieder.
Marco zu töten, sagte er sich, wird so sein, als ob ich zum ersten Mal töten würde. Schwierig. Aber ich werde es tun. Wie eine Katze, die Mäuse fängt. Die Katze empfindet auch kein Mitleid mit ihrer Beute.
Doch zuerst brauchte er einmal den Impfstoff.
» Wir warten, Doktor Ballard«, sagte er höflich und legte die Hand aufs Messer.
12 . 4
Ballard runzelte die Stirn; Marco spürte seinen Widerwillen. Doch die Wahrheit war, dass Roger schon seit Jahren darauf wartete, etwas zu präsentieren– irgendjemandem, selbst wenn es jemand war, den er für so einen stupiden Soldaten wie Wu hielt. Die schwingende Handschelle am Operationstisch kam zum Stillstand, und Ballard nickte. In stolzer Pose drehte er sich zum Wandregal um und nahm eine mit einem Gummistopfen verschlossene Ampulle von der unteren Reihe.
Er hob die Ampulle, als wollte er einen Toast ausbringen. In ihrem Inneren schwappte eine zähe Flüssigkeit, die an braunen Joghurt erinnerte, während er provokant mit dem Fingernagel dagegenschnippte.
» Der Impfstoff«, sagte er mit wichtiger Miene, jedoch kaum lauter als im Flüsterton.
Wu richtete den Blick auf die Ampulle. » Sind Sie sicher, Doktor? Dass er auch wirkt?«
» Oh ja, absolut. Ich habe ihn oft an mir selbst getestet, und es ist keine Zunahme der Auferstehungs -Prionen in meinem Körper erfolgt.«
» Bei dir selbst?«, fragte Marco konsterniert. » Aber– was meinst du damit, getestet? Wie oft?«
Ballards Gesicht umwölkte sich.
» Du hast dir die Auferstehung selbst injiziert?«, fragte Marco ungläubig.
» Nein, Henry.«
Marco zögerte. » Bist du noch einmal gebissen worden?«
Ballard sagte nichts. Er drehte sich um und stellte die Ampulle ins Regal zurück.
» Antworten Sie uns, Doktor«, sagte Wu mit einem warnenden Unterton. Marco spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Irgendwie wusste er– er wusste es einfach–, dass Rogers Antwort ihm überhaupt nicht gefallen würde.
» Ich habe infiziertes Fleisch verzehrt«, sagte Ballard. » Leichen.«
Eine Weile sagten die Männer kein Wort.
Marco stieß die Luft aus, die er vor schierem Entsetzen angehalten hatte, und erlangte als Erster die Sprache zurück. » Ach du Scheiße.«
Wu schürzte mit einem deutlichen Ausdruck des Ekels die Lippen. » Sie haben die Toten gegessen…?«
Ballard schaute finster. » Ja, Sergeant Wu. Um zu überleben. Im Vorratsraum des Gefängnisses waren nur Lebensmittel für ein Jahr. Und als die aufgebraucht waren, musste ich mich anderweitig versorgen. Ratten waren auch eine Option, aber sie sind zu klein– sie halten nicht lange vor. Doch eine Leiche reicht für ein paar Wochen.«
Marco schauderte. Er hatte plötzlich den Geschmack von Galle im Mund, und sein Kopf glich wieder einem Panoptikum aus unerfreulichen Bildern. Von Ballard, wie er Leichen in ihren Zellen schlachtete. Wie er das faulige, verweste Fleisch von den Knochen schabte. Zähe graue
Weitere Kostenlose Bücher