Return Man: Roman (German Edition)
er die Luft umwälzen. » Das Problem ist Sauerstoff, Henry«, fuhr er fort. » Selbst wenn wir die Prionen mit einem Heilmittel neutralisieren könnten, wie sollte das Gehirn sich wohl wieder erholen? Nach einer so langen Asphyxie? Stell dir das doch nur einmal vor. Monate und Jahre ohne Atmung, ohne Sauerstoff. Die Patienten würden einen unvorstellbaren Hirnschaden erleiden. Zerebrale Lähmung in ihrer schlimmsten Form.«
Die M9 zitterte in Marcos Hand– der einzige Körperfortsatz, der noch einer Regung fähig war. » Also kühlst du sie«, sagte er. » Um den Schaden zu begrenzen.« Er sagte das emotionslos und war auch froh über diese emotionale Lähmung. Wenn er auch nur die kleinste Gefühlsregung zuließ, würde es ihn zerreißen wie eine überlastete Maschine. Dann würden sämtliche Sicherungen bei ihm durchbrennen.
» Wie du es auch bei Hannah versucht hast«, fügte er hinzu. Er sah Wu von der Seite an; selbst der Sergeant schien sich unbehaglich zu fühlen. Er hatte eine blutverkrustete Augenbraue hochgezogen und betrachtete die tiefgekühlte Leiche.
Ballard sah Marco ebenso unsicher wie flehentlich an. » Ich kann sie retten, Henry.«
Ich kann Hannah retten. Dieses Versprechen, das Roger vor sechs Jahren gegeben und dann gebrochen hatte– es hallte nun laut und deutlich in seinem Bewusstsein wider, und eine alte Wunde wurde aufgerissen. Marco verzog das Gesicht.
» Nein, Roger«, sagte er. » Das kannst du nicht. Das ist unmöglich. Sie sind beide tot.«
Für den Bruchteil einer Sekunde trat ein panischer Ausdruck in Ballards Augen; doch dann erlangte er genauso schnell die Fassung zurück. Ein schwaches Lächeln erschien auf seinem hageren Gesicht.
Er ignorierte Marcos Vorwurf. » Du verstehst doch«, sagte er mit gezwungener Fröhlichkeit, » dass ich die Forschungen fortsetzen muss. Bis eine effektive Behandlung entwickelt wurde.« Wie um das zu unterstreichen, schlug er die Kühlschranktür zu und schloss die Leiche wieder in ihrer frostigen Katakombe ein. Dieser Handgriff schien Ballard das Letzte abzuverlangen. Er packte die Türgriffe und drückte die Stirn gegen das Glas. Die Brille schlug mit einem leisen metallischen Geräusch gegen die vereiste Oberfläche.
» Ehrlich gesagt hatte ich sehr wohl schon daran gedacht zu gehen«, gestand er. Er klang todmüde. » Aber das kann ich nicht, Henry. Du verstehst das doch. Wer sonst, wenn nicht du. Deshalb bin ich auch so froh, dass du gekommen bist. Deshalb habe ich dir auch geschrieben, um dir zu sagen, wie leid es mir tut. Ich musste nämlich hierbleiben, um wegen Hannah Sühne zu leisten…«
Er schien förmlich in sich zusammenzusacken. » Verstehst du, Henry? Das ist mein Gefängnis.«
Und dann lachte er– zuerst ein leises, kaum hörbares Säuseln. Doch dann wurde es immer lauter und heftiger, und seine schmächtigen Schultern zuckten, bis das wiehernde Gelächter abrupt verstummte. Er legte den Kopf gegen den Kühlschrank und verharrte in dieser Stellung wie in einer Gebetspose.
Das ist mein Gefängnis.
In Marcos Kopf drehte sich alles. Tatsache war, dass Roger recht hatte. Ich verstehe.
Ein Gefängnis. Genauso fühlte es sich an– eine ausbruchssichere, fensterlose Hölle; eine Kerkertür, die an dem Tag, als Hannah starb, hinter ihm und Danielle zugeschlagen wurde. Und auch hinter Roger– Marco hatte das bis eben nur nicht erkannt. Aber ja, auch hinter Roger. Und keiner von ihnen hatte bisher einen Weg hinausgefunden. Sein Kinn zuckte, und Tränen traten ihm in die Augen. Sollten sie nur fließen. Er war es leid, sie zu unterdrücken.
Also weinte er.
Er erinnerte sich an die Tage, die Wochen, die zwei Jahre, nachdem sie Hannah verloren hatten. An die unzähligen dunklen Stunden im Bett, in denen er, lange nachdem sie das Licht ausgemacht hatten, an den Gitterstäben seines Bewusstsein gerüttelt hatte. Wie er um Gnade gefleht hatte– für die Begnadigung um Mitternacht, die niemals kam, von einem Gouverneur, dem das völlig egal war. Es war die Einsamkeit, die am meisten geschmerzt hatte. Danielle nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt auf der unbequemen Matratze, das Gesicht abgewandt; und doch hatte er immer irgendwie gewusst, wenn sie die Augen geöffnet hatte und schlaflos die Wand anstarrte. Sie war der Häftling in der Zelle neben ihm. Mit der gleichen Strafe belegt, aber von ihm getrennt. Weil er nämlich nie wusste, was er sagen sollte oder was er sie fragen sollte, oder wann er sie berühren sollte– oder
Weitere Kostenlose Bücher