Rheinsteigmord - Kriminalroman
nicht immer mit irgendwelchen Kumpels Westernpartys? Mit Grillen, Banjomusik und so? Das hast du jedenfalls damals getan. Zumindest hast du davon erzählt.«
Ludi schüttelte den Kopf. »Das ist lange vorbei. Ich bin fast achtzig Jahre alt, Fred. Sicher, ich bin noch ganz gut dabei, aber eigentlich sitze ich nur rum.«
»Aber du hast zu tun. Du streichst den Zaun an.«
»Ja, zum dritten Mal dieses Jahr.«
»Und deine Kumpels?«
Ludi blickte in seine Tasse. »Wir waren fünf. Zwei sind tot, einer sitzt im Altersheim irgendwo bei Mainz, weil er da näher bei seinem Sohn ist. Als ich ihn das letzte Mal besucht habe, hat er mich für den Postboten gehalten. Und einer hatte einen Schlaganfall. Reha, Rollstuhl. Guckt den ganzen Tag Fernsehen. Er ist unser Nachbar. Meine Frau schaut manchmal nach ihm.«
»Ich verstehe«, sagte Fred.
Ludi sah auf und blickte Fred an. »Also. Wie gesagt, es kann eine ziemlich alte Waffe sein. Eine, die mir spontan einfällt und die dazu passt, ist eine Lebel. Französisches Fabrikat. Das Gewehr wurde irgendwann in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gebaut. Wenn du’s genau wissen willst, muss ich nachschlagen. Die Bücher sind allerdings zu Hause. Und ich habe im Moment keine Lust, dahin zu fahren.«
»19. Jahrhundert? Gab’s da nichts Neueres? Du hast doch gesagt, das sei eine Waffe aus dem Ersten Weltkrieg. Der begann aber erst 1914, oder nicht? Hatten die so alte Waffen damals?«
»1914 bis 1918, ja. Ausgelöst durch das Attentat in Sarajevo, bei dem der österreichische Thronfolger ums Leben kam.« Ludi kratzte sich am Kopf. »Österreich beschloss daraufhin, den Völkern im Osten des Reiches mal zu zeigen, wer der Herr im Hause ist, und das deutsche Kaiserreich sagte seine Unterstützung zu – was nach und nach eine allgemeine Mobilmachung der verschiedenen miteinander verbündeten Länder zur Folge hatte. Schließlich machte auch Frankreich mobil, der alte Erzfeind der Deutschen. Die sahen sich genötigt, auf Angriffskurs zu gehen, mussten aber, um nach Frankreich zu gelangen, erst durch Belgien. Sie sind also dort einmarschiert. So waren die Deutschen die Ersten, die in diesem Konflikt ein Land attackierten, und gelten bis heute als diejenigen, die den Krieg angefangen haben. Verloren haben sie ihn außerdem – mit der Auflage ungeheurer Ausgleichszahlungen. Weißt du, wann Deutschland die letzte Rate dieser Reparationen gezahlt hat?«
»Ludi, hier geht’s nicht um eine Geschichtslektion. Du wolltest mir eigentlich was zu der Waffe erzählen.«
»Rate doch mal. Wie gesagt, der Krieg war 1918 zu Ende. Wie lange mussten die Deutschen wohl zahlen? Na?«
»Keine Ahnung.«
»Rate. Los, mach schon.«
»Ich denke mal, bis zur Nazizeit. Oder vielleicht danach noch ein bisschen.« Fred wühlte in seinem Gedächtnis. Hatte er darüber etwas in der Schule gelernt? Er konnte sich nicht erinnern.
Unter der Kohl-Regierung war die deutsch-französische Freundschaft hochgehalten worden. Der Kanzler und der französische Staatspräsident … war das Mitterand gewesen? Sie hatten jedenfalls an irgendeinem Feiertag Hand in Hand dagestanden.
»Sechziger Jahre?«, rief Fred, nachdem Ludi noch mehrmals »Na? Na?« gesagt hatte.
»2010«, erklärte Ludi kühl. »Im Jahr 2010 hat Deutschland die letzte Rate überwiesen. Fast hundert Jahre nach dem Attentat. Hättest du nicht gedacht, was?«
Stimmt, das hätte Fred wirklich nicht gedacht. Er atmete tief durch. »Zurück zu der Waffe, der Lebel.«
»Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert, wurde aber halt im Ersten Weltkrieg noch verwendet. Auf französischer Seite übrigens. Zu ihrer Zeit war sie sehr modern. Das Schießen erzeugte weniger Rauch. Eine sehr nützliche Erfindung.«
»Warum ist das nützlich?«
»Wenn es qualmt, sieht man von Weitem, wo der Schütze steht.«
Fred nickte nachdenklich.
Ludi trank einen Schluck Kaffee. »Ich denke, jetzt bist du dran, Fred. Wo kommt diese Kugel her?«
Fred räusperte sich und ordnete seine Gedanken. Vielleicht war es ja ganz gut, die ganze Geschichte jemandem zu erzählen. Gut, er hatte schon Sarah davon berichtet – zumindest den Stand der Dinge bis zu ihrem Besuch, aber sie hatte ja nur ihre Statistiken und ihre verquere Logik im Kopf. Ihr fehlte die polizeiliche Erfahrung. Und plötzlich fiel Fred ein, dass Sarah sich mit dem ganzen Logik-Zeugs vielleicht nur hatte wichtigmachen wollen. Vielleicht war es ein Versuch gewesen, Eindruck auf ihren Vater zu machen. Auf einen
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