Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Abschiedsworte murmelte, weil er vor dem geistigen Auge irgendetwas oder irgendjemanden sah oder sich an irgendetwas erinnerte, während sein behelmter Kopf schlaff zur Seite hing.
Er sah einen Mann ausgestreckt daliegen, mit aufgerissener Rüstung und aufgeplatztem Bauch. Ein kohlrabenschwarzer Hund zerrte kurz an seinen heraushängenden Därmen, ließ aber davon ab, als der Mann aufwimmerte und sie sich wieder in den Bauch zu stopfen versuchte. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und war sichtlich angetan von dem schönen Spiel.
Jemand packte von hinten den Kragen von Bennosukes Rüstung und riss ihn so aus seinen Beobachtungen. Der Junge schlug hinter sich, während seine Füße in den Eingeweiden des Pferdes herumstrampelten.
«Musashi! Steh auf!», knurrte eine Stimme. «Hoch mit dir!»
Es war Kumagai. Er versuchte, ihn auf die Beine zu zerren. Seine Rüstung war verdreckt, den Speer schien er verloren zu haben, und er war fuchsteufelswild. Sofort schien das Schlachtfeld näher zu rücken, es war nun kein fernes Theater mehr, sondern nahe, greifbare Realität. Um sie her standen auch noch andere Männer, die verwundet oder vor Angst wie gelähmt waren oder aus irgendwelchen anderen Gründen nicht am Gefecht der Speerkämpfer teilnahmen. Kumagai schrie sie an, wollte ihren Kampfgeist wieder wecken.
«Seht ihr? Kobayakawa ist der Verräter! Schaut doch!» Er wies auf den Hang an der rechten Flanke, während er mit einer Hand immer noch an Bennosukes Kragen zerrte.
Gleich einer Brücke, die vom einen Ende her einstürzt, wandten sich Kobayakawas Männer nun tatsächlich gegen ihre vormaligen Verbündeten. Damit löste sich ihre gesamte Flanke auf. Den Zahlen nach stellten sie ein Drittel aller Kräfte des Westens, und sie waren zudem noch frisch – und liefen nun geschlossen zum Feind über. Tokugawas Männer öffneten ihre Reihen für sie und marschierten nun Schulter an Schulter mit den Kobayakawa, als wären sie altvertraute Verbündete, und gemeinsam rückten sie, unverwundet und ausgeruht, auf das Gedränge vor, in dem die Truppen Ukitas und der übrigen loyalen Fürsten seit Stunden schon miteinander rangen.
«Alle zu mir! Das werden wir diesen Hunden heimzahlen!», fauchte Kumagai.
«Was?», hauchte ein zusammengekrümmter Mann, dem Blut über die Stirn rann. «Aber … Seht sie Euch doch an!»
«Hoch mit dir, Musashi!», befahl Kumagai, doch der Junge verharrte, halb eingesunken in dem Pferd. Kumagai wandte sich an die anderen Männer ringsumher: «Wir greifen sie an! Wir müssen die Flanken schützen!»
«Aber …»
«Bist du ein Samurai?», zischte Kumagai.
«Das ist …», wollte der Mann erwidern.
«Bist du ein Samurai?», schnitt ihm Kumagai erneut das Wort ab.
«Ja.»
«Was zögerst du dann?»
Der Mann erwiderte nichts. Er schüttelte nur kurz den Kopf und richtete sich dann auf. Resignation und Entschlossenheit zeigten sich auf seinem Gesicht. Er wusste, dass Kumagai recht hatte. Und die anderen Männer, zwei Dutzend schwer mitgenommene Gestalten, wussten es auch.
«Was ist mit dir, Musashi?», fragte Kumagai und sah zu ihm hinab. Der Junge war der Einzige, der sich ihm noch nicht wieder angeschlossen hatte. «Bist du ein Samurai?»
Der Junge sagte nichts.
«Bist du ein Samurai, Musashi?», fragte Kumagai und schlug ihm auf den Hinterkopf.
Der Junge regte sich nicht.
«Bist du ein Samurai?», knurrte Kumagai und bückte sich, um sich von Angesicht zu Angesicht an ihn zu wenden. «Oder willst du hier hocken bleiben? Was bist du? Ein Feigling? Ein Feigling,
ein hundsverdammter Feigling
!»
Da sah ihm der Junge in die Augen, und die Leere seines Blicks machte Kumagai rasend. Er richtete sich auf, trat Bennosuke vor die Brust und zog sein Schwert. «Du bist ein verdammter Feigling, Musashi! Ich hab immer gewusst, dass du ein Weichling bist! Dann bleib doch hier! Alle wahren Samurai zu mir!»
Er richtete sein Schwert auf die Kobayakawa-Truppen und schrie sich fast die Kehle aus dem Hals. Bennosuke sah zu, wie Kumagai stolpernd attackierte, dabei über Leichen sprang und im Schlamm wegrutschte. Die anderen Männer folgten ihm als versprengter, schäbig anzusehender Haufen und fuchtelten in verzweifeltem letztem Wagemut mit ihren Schwertern.
Kobayakawas makellose Reihen hoben ihre Musketen und feuerten. Die Kugeln, die sie verschossen, waren groß wie Augäpfel und zerfetzten Kumagai und seine Männer auf der Stelle. Es war ein schmerzloser, augenblicklicher Tod. Die Samurai fielen.
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