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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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zurückstrich.
    »Aber liebes Herz«, sagte Viola, und das waren die zärtlichsten Worte, die Ann je von ihr gehört hatte.
    »Ich habe gehört, dass du gestürzt bist«, sagte sie und kämpfte mit den Tränen. Und wenn sie nun doch meine Mutter wäre, fuhr ihr durch den Sinn, und sofort hatte sie Gewissensbisse.
    »Es ist, wie es ist«, sagte Viola. »Das dusselige Hühnerhaus stand im Weg.«
    »Hast du Schmerzen?«
    |179| Viola schüttelte den Kopf.
    »Wann kannst du nach Hause fahren?«
    »Nächste Woche, haben sie gesagt. Aber hier wird so viel geredet, dass man gar nichts weiß.«
    Ann zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Viola.
    »Wie geht es mit Victor?«
    »Wie immer. Im Winter ist er klapprig, aber sobald die Sonne kommt, wird er wieder munter.«
    Sie wusste nicht, was sie noch fragen sollte. Wie zu Anfang ihrer Bekanntschaft fühlte Ann sich in Violas Nähe unbeholfen und linkisch.
    »Und du?« Viola sah sie an.
    »Danke gut, doch. Ich arbeite, habe viel zu tun. Im Moment haben wir einen Mordfall.«
    »Du hast doch immer so schauderhaftes Zeugs. Und der Junge?«
    »Erik geht es gut. Er geht in den Kindergarten.«
    Ann schluckte. Nun frag schon, dachte sie und betrachtete Violas Gesicht.
    »Edvard war gestern hier«, sagte Viola. »Er hatte in Uppsala zu tun.«
    Ann nickte.
    »Er arbeitet wie immer mit Gottfrid zusammen. Die beiden haben so viel zu tun, du kannst es dir nicht vorstellen.«
    Der Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Sie sah vergnügt aus. Sie hat sich nicht ein bisschen verändert, dachte Ann Lindell. Sie ist mir ein Rätsel.
    »Wie gut«, sagte sie.
    »Ja, aber natürlich viel zu viel«, sagte Viola unwirsch und relativierte so die Zufriedenheit, die sie zuvor gezeigt hatte.
    Das war typisch für sie. Nichts durfte richtig gut sein. Aber richtig schlecht durften die Dinge durchaus sein, damit hatte sie kein Problem.
    |180| »So lange bin ich noch nie in Uppsala gewesen. Mir genügt die Stadt«, sagte Viola, und Ann nahm an, dass sie damit Öregrund meinte. »In meinem ganzen Leben bin ich vielleicht zwanzigmal in Uppsala gewesen. Aber so lange noch nie.«
    Sie schwieg und sah aus dem Fenster.
    »Sie bauen«, sagte sie auf einmal und hatte wieder diesen zufriedenen Zug um den Mund. Ann ahnte, dass sie an Edvard dachte.
    Was für eine Freude sie doch an Edvard hatte! Sie wird dem glücklichen Stern schon viele Male für jenen Abend gedankt haben, dachte Ann, als Edvard bei ihr anklopfte und ein Zimmer mieten wollte.
    »Ich sollte wieder gehen«, sagte Ann. »Schläfst du gut?«
    Viola lachte auf. »Was für eine Frage! Lauf los und fang die Halunken!«
    Ann stellte den Stuhl zurück und ging zur Tür. Auf halbem Weg blieb sie stehen und schaute sich um. Die alte Frau blickte sie an. Mit ein paar schnellen Schritten stand Ann neben ihr, beugte sich vor und umarmte sie unbeholfen. Dann ging sie, ohne ein weiteres Wort und ohne sich noch einmal umzudrehen.
     
    Ann hatte das Gefühl, Viola zum letzten Mal gesehen zu haben. »Lauf los und fang die Halunken!« Anfangs hatte Viola ihr offen zu verstehen gegeben, dass sie Anns Beruf missbilligte. Das sei keine Arbeit für eine Frau, fand sie. Jetzt interpretierte Ann ihre letzte Bemerkung als Billigung. Vielleicht war das ihre Art auszudrücken, dass sie Ann trotz allem gern hatte, trotz allem, was sie dem vergötterten Edvard angetan hatte. Ann hatte sich nie recht von einem Gefühl der Unterlegenheit der alten Frau gegenüber frei machen können, es war nur mit der Zeit schwächer geworden. Das hatte nicht nur mit Violas Ehrfurcht gebietendem Alter, ihrer eigensinnigen Energie und Selbstständigkeit zu tun, sondern auch |181| damit, dass sie ein Leben außerhalb der Gesellschaft geführt hatte und führte.
    Auf eine dunkle Weise erschreckte das Ann und sprach sie gleichzeitig an. Vermutlich meldete sich da ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte Ödeshög und ihre Eltern verlassen, weil sie die Beschränktheit der Kleinstadt und die Enge des Lebens ihrer Eltern leid war.
    Sie war zwanzig, als sie aus Östergötland wegzog und die Polizeihochschule besuchte. Zu ihren Eltern hatte sie seither nur sporadischen Kontakt. Als sie Ende Juni für eine Woche hingefahren war, sehnte sie sich bereits am ersten Abend zurück nach Uppsala.
    Ann war aufgewühlt. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie Ordnung in ihre Gedanken bringen könnte, und sie wusste schon gar nicht, welche Schlüsse sie ziehen oder welche Ziele sie sich setzen sollte. Es

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