Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruhig Blut!

Ruhig Blut!

Titel: Ruhig Blut! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
Vom Netzwerk:
gefangen, blickten sie beide zu dem
    Teil der Straße, wo ein unsichtbarer Schlagbaum den Weg versperrte.
    Normalerweise hätte Igor keine Zeit vergeudet. Aber die Familie ging
    ihm auf die Nerven, und er reagierte auf die traditionelle Weise genervter
    Diener, indem er sich sehr dumm stellte. Er beugte sich vor und sprach
    durch die offene Luke zu den Insassen der Kutsche.
    »Ef ift eine Grenzkontrol e, Herr«, sagte er. »Wir müffen etwaf abf-
    tempeln laffen.«
    Wieder flüsterten Stimmen, und dann wurde ein großes weißes Recht-
    eck mit goldener Kante nicht besonders freundlich durch die Luke ge-
    schoben. Igor reichte es weiter.
    »Eigentlich schade«, sagte der Trol , stempelte das weiße Rechteck un-
    geschickt und gab es zurück.
    »Waf ift daf denn?« fragte Igor.
    »Tschuldigung?«
    »Diefef… dumme Zeichen!«
    »Nun, die Kartoffel nicht groß genug war für das offizielle Siegel, und
    eigentlich ich gar nicht weiß, wie aussieht ein Siegel, aber ich glaube, das ist gute Darstellung einer Ente«, entgegnete der Troll fröhlich. »Und
    jetzt… Du soweit bist? Weil ich hebe den Pfahl. Es geht los. Siehst du?
    Er jetzt zeigt nach oben. Das bedeutet, du weiterfahren kannst.«
    Die Kutsche rol te einige Dutzend Meter weiter und hielt dann vor der
    Brücke.
    Der Troll glaubte seine Pflicht erfüllt, wankte ebenfalls in Richtung
    Brücke und hörte ein verwirrendes Gespräch. Al erdings hätten die meis-
    ten Gespräche, bei denen mehrsilbige Worte verwendet wurden, den
    Großen Dummen Dummkopf verwirrt.
    »So, ich möchte, daß ihr jetzt gut aufpaßt…«
    »Vater, das ist nun wirklich nicht neu für uns…«
    »Ich kann es gar nicht oft genug betonen. Das dort unten ist der Fluß Lancre. Er besteht aus fließendem Wasser. Und wir werden ihn überqueren. Ich möchte daran erinnern, daß eure Vorfahren zwar Hunderte von
    Meilen weit reisten, aber fest davon überzeugt waren, nicht einmal einen
    Bach überqueren zu können. Muß ich extra auf diesen Widerspruch
    hinweisen?«
    »Nein, Vater.«
    »Gut. Kulturel e Konditionierung könnte für uns den Tod bedeuten,
    wenn wir nicht vorsichtig sind. Fahr weiter, Igor.«
    Großer Dummer Dummkopf sah der Kutsche nach. Kälte schien ihr
    über die Brücke zu folgen.

    Oma Wetterwachs flog wieder und genoß die klare, frische Luft. Sie hielt
    sich ein ganzes Stück über den Bäumen, und zum Glück für al e Beteilig-
    ten konnte niemand ihr Gesicht sehen.
    Abgelegene Bauernhöfe zogen unter ihr vorbei. Hinter einigen Fens-
    tern brannte Licht, doch die meisten waren dunkel – die Leute hatten
    sich längst auf den Weg zum Schloß gemacht.
    Unter jedem Dach gab es eine Geschichte, wußte Oma Wetterwachs.
    Mit Geschichten kannte sie sich aus. Doch das dort unten waren Ge-
    schichten, die nie erzählt wurden: kleine, geheime Geschichten, die in
    kleinen Zimmern spielten…
    In diesen Geschichten half keine Medizin, und Pschikologie blieb wir-
    kungslos, weil zuviel Schmerz einen Geist quälte, der in einem zum
    Feind gewordenen Körper steckte. Manchmal waren Personen in einem
    Kerker aus Fleisch gefangen, und dann konnte Oma sie gehen lassen.
    Es erforderte keine drastischen Maßnahmen, wie zum Beispiel ein Kis-
    sen oder das absichtliche Verwechseln von Arzneien. Man schob die
    Betreffenden nicht aus der Welt, sondern hinderte die Welt daran, sie
    weiterhin festzuhalten. Man berührte sie nur… und zeigte ihnen den
    Weg.
    Gesprochen wurde dabei nie. Ab und zu stand in den Gesichtern der
    Verwandten eine Bitte, die niemand in Worte zu fassen wagte. Oder es
    hieß: »Kannst du etwas für ihn tun?« So lautete vielleicht der Code.
    Wenn man fragte, waren die Leute schockiert und behaupteten, sie hät-
    ten nie etwas anderes gemeint als vielleicht ein weicheres, bequemeres Kissen.
    Jede Hebamme, die in blutigen Nächten in irgendeiner einsamen Hütte
    arbeitete, kannte al die anderen kleinen Geheimnisse…
    Nie darüber reden…
    Oma Wetterwachs war ihr ganzes Leben lang Hexe gewesen und wuß-
    te daher: Eine Hexe stand direkt am Rand, wo die Entscheidungen ge-
    troffen wurden. Man traf sie selbst, damit die anderen sie nicht treffen
    mußten, damit sie sich der Illusion hingeben konnten, es seien gar keine
    Entscheidungen notwendig, damit sie weiterhin glaubten, es gäbe keine
    kleinen Geheimnisse, nur Dinge, die einfach passierten. Man sagte nie, daß man Bescheid wußte. Und man bat nie um eine Gegenleistung.
    Das Schloß war hel erleuchtet. Oma Wetterwachs konnte

Weitere Kostenlose Bücher