Sacramentum
Dunkelheit, denn sie wagten es nicht, sie freizulassen, aus Angst vor dem, was dann folgen würde.
Aber sie konnten sie auch nicht töten, denn sie wussten nicht wie. Und als die Zeit verrann, da wurden die Männer von ihrer eigenen Schuld gefesselt.
Und ihr Heim wurde zu einer Festung, der einzige Ort, an dem das Wissen über ihre Tat bewahrt wurde.
Es ist kein heiliger Berg, sondern ein verfluchtes Gefängnis.
Und Eva ist noch immer dort gefangen,
Ein heiliges Geheimnis – ein Sakrament,
Bis zu der Zeit, da die Prophezeiung sich erfüllt und ihr Leiden ein Ende hat.
Liv sprang auf und warf dabei den Stuhl um, als hätte sie plötzlich eine Schlange auf dem Tisch entdeckt. Sie las die letzten Zeilen noch einmal, und die entscheidenden Worte hallten in ihrem Kopf wider: Eva … ein heiliges Geheimnis … ein Sakrament …
Allein diese Worte reichten aus, und Liv erinnerte sich wieder klar und deutlich an das, was sie in der Zitadelle gesehen hatte. Sie erinnerte sich an das Tau und die Augen darin, grün wie ihre eigenen, die sie angestarrt hatten. Sie erinnerte sich daran, wie das Kreuz sich geöffnet hatte, und da hatte sie dann das zerbrechliche Mädchen gesehen, die Haare wie Mondlicht so hell und der Leib voll Blut, das aus unzähligen, furchtbaren Wunden strömte, die ihr die Dornen im Kreuz gerissen hatten. Liv rieb sich die eigene Haut und erinnerte sich an das zunehmend unangenehme Gefühl, das sie in letzter Zeit gehabt hatte. Erst war es ja nur eine Gänsehaut gewesen, doch dann hatte es sich rasch gesteigert, bis sie geglaubt hatte, irgendjemand habe ihr unzählige Nadeln in den Leib gebohrt. Es war das Gleiche. Sie war das Gleiche. Doch es war nicht ihre Erfahrung, woran sie sich erinnerte.
Liv schaute wieder auf das Notizbuch und las den Rest der Übersetzung.
Das Eine Wahre Kreuz wird auf Erden erscheinen
Und alle werden es in einem Augenblick sehen und staunen
Und das Kreuz wird fallen
Das Kreuz wird sich erheben
Das Sakrament zu befreien
Am Beginn der neuen Zeit
Durch seinen gnadenvollen Tod.
Das war die Prophezeiung, die Gabriel ihr erklärt hatte, und jetzt sah Liv, dass sie sich tatsächlich erfüllt hatte. Ihr Bruder hatte das Zeichen des Tau geformt – das Eine Wahre Kreuz –, bevor er gestürzt war, und sie hatte sich an seiner statt erhoben, Fleisch von seinem Fleisch. Sie war das Kreuz. Sie hatte das Sakrament befreit.
Weitere Erinnerungen brachen über Liv herein. Das Messer in ihrer Hand, das vergossene Blut, ihres und … Evas, das sich auf dem Boden mischte. Ihr Geist hatte sich vereint, als ihr Blut gemeinsam geflossen war. Liv blickte in den Spiegel und starrte sich selbst in die Augen. Grüne Augen – ihre Augen und doch nicht ihre. Es war, als schaue sie eine Fremde aus dem Spiegel an. Liv streckte die Hand aus, um ihr Spiegelbild zu berühren, doch das Klingeln einer Türglocke ließ sie den Kopf herumreißen. Adrenalin strömte durch ihre Adern. Wer konnte das sein, so früh am Morgen? Es klingelte erneut, und Liv erkannte ihren Irrtum. Es war nur Skis Handy, das auf dem Bett klingelte. Sie schnappte es sich sofort aus Angst, dass das Klingeln wieder aufhören könnte, und nahm den Anruf an.
»Hallo?«
Es folgte eine kurze Pause – Satellitenverzögerung –, dann sprach er.
»Liv. Ich bin’s. Gabriel.«
Noch nie hatte Liv sich so erleichtert gefühlt. Ein Lächeln keimte in ihr auf und füllte sie mit Wärme. Es war so viel geschehen, und es gab so viel zu erzählen …
»Hi«, brachte sie schließlich mühsam hervor, und das Lächeln erreichte ihr Gesicht.
»Hi«, erwiderte Gabriel. Er lächelte ebenfalls. Das hörte sie an seiner Stimme. »Wo steckst du?«
»Ich bin …« Fast hätte sie ›zu Hause‹ gesagt, doch das Wort blieb ihr in der Kehle stecken. »Ich bin wieder in New Jersey in einem Hotel, das ein Freund mir besorgt hat.« Aus dem Augenwinkel heraus sah sie den Fernseher, und sie erinnerte sich an die Nachrichten. »Wie geht es dir? Ich habe die Nachrichten gesehen.«
»Ich bin okay«, antwortete er. Von dem Lächeln war nun nichts mehr zu hören. »Wir können später darüber reden. Jetzt müssen wir dich erst einmal in Sicherheit bringen, bevor die Zitadelle dich wieder findet. Hast du deinen Laptop und Zugang zum Internet?«
»Ja.«
»Hast du schon mal Skype benutzt?«
»Natürlich.« Skype war des Journalisten Freund. Wo auch immer es ein Netzwerk gab, konnte man umsonst damit anrufen. Und es übertrug auch Bilder und wurde immer
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