Sag niemals nie
verkrampften Glieder. Und er hatte Anna vorgehalten, im Überfluss aufgewachsen zu sein!
„Anna?“ Sanft schüttelte er sie. Am liebsten hätte er die Finger in ihr Haar geschoben. Sie bewegte den Kopf ein wenig, öffnete jedoch die Augen nicht. Angelo beugte sich über sie und spürte ihren Atem schwach an seiner Wange.
Zärtlich küsste er sie auf die Stirn. „Anna, dolce amore, bitte sieh mich an.“
Sie rührte sich und flüsterte etwas, dann öffnete sie die Augen ein wenig. Erleichtert atmete er auf.
„Ich mache dir einen Tee.“
Sie tastete nach ihrer Schläfe, und er nahm ihre Hand in seine. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich um sie ängstigte.
„Schlaf weiter.“
„Aber … mein Vater. Ich muss …“
„Mach dir keine Sorgen, überlass alles mir.“ Seine Stimme klang hart. Anna sollte nicht merken, was in ihm vorging.
Sie wandte den Kopf ab, und über ihre Wange rann eine Träne in ihr Haar. „Tut mir leid, Angelo.“
Er seufzte. „Ach, Unsinn. Sag mir, wo ich deinen Vater finde, und schlaf weiter.“
„Er ist in der Bibliothek.“
„Braves Mädchen.“ Er fragte sich, ob sie sich auch daran erinnerte, wie sie sich damit am Strand geneckt hatten.
Als er sie wieder anblickte, war Anna wieder eingeschlummert.
„Sir William?“ Im Schein des schwach glimmenden Kaminfeuers saß Annas Vater am Fenster und blickte starr hinaus. Als Angelo den Raum betrat, drehte der Alte sich um. Er ging zu ihm und reichte ihm die Hand. „Ich bin Angelo Emiliani.“
Sir Williams Händedruck war erstaunlich kraftvoll. Forschend sah er Angelo ins Gesicht.
„Sie sind also der Mann, der Belle-Eden gekauft hat. Hoffentlich sind Sie nicht gekommen, um Ihr Geld zurückzufordern. Das hat nämlich schon das Finanzamt kassiert. Haben Sie mit Rose gesprochen?“
„Rose?“, wiederholte Angelo verständnislos.
„Ja. Der Arzt sagt, sie sei gestürzt.“
„Ach, Anna! Sie schläft.“
Sir William lachte. „Sie liebt es also immer noch, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Einen Sommer lang hat sie zwei Freunde mit einer erfundenen Schwester auf Trab gehalten. Da wollte einer immer Rose, der andere Anna sprechen. Der eine war ein piekfeiner Adeliger, der sie ins Ballett und zu vornehmen Veranstaltungen führte. Der andere ist mit ihr auf dem Motorrad durch die Gegend gefahren.“ Er schüttelte den Kopf. „Bei ihr wusste ich nie, woran ich war.“
Angelo lächelte. „So geht es mir auch.“
Der Alte wurde traurig. „Ihre Mutter, Lisette, verstand sie. Eine schreckliche Tragödie, ihr Tod. Für Roseanna und mich.“ Er blickte zum Porträt einer wunderschönen blonden Frau im roten Abendkleid über dem Kamin auf.
Angelo schob die Hände in die Taschen und betrachtete das Gemälde. Seltsam, aber es löste etwas in ihm aus. Irgendetwas an dem Bild berührte ihn.
„Annas Mutter?“
Sie sah Anna überhaupt nicht ähnlich. Die vornehme Frau wirkte kalt, ihre Schönheit hatte etwas Starres an sich. Annas Lebendigkeit und Warmherzigkeit erschienen ihm im Vergleich umso verblüffender.
„Aber sicher sind Sie nicht gekommen, um sich alte Familiengeschichten anzuhören. Was kann ich also für Sie tun, Mr. Emiliani?“
„Ich wollte einige Sachen bringen, die im Château auf dem Speicher liegen geblieben sind … Fotos, Briefe, Kleidungsstücke.“
Sir William gab einen abfälligen Laut von sich. „Nett von Ihnen, aber die Mühe hätten Sie sich sparen können. Ich will die Sachen nicht. Das Schloss habe ich nie gemocht. Ich war fast nie dort.“ Er schien sich zu besinnen. „Briefe, sagen Sie? Fotos? Werfen Sie alles weg. Ich möchte die alten Wunden nicht wieder aufreißen.“
„Wie Sie wollen“, erwiderte Angelo höflich, obwohl die Reaktion des Alten ihn befremdete. „Meinen Sie nicht, Anna wird das eine oder andere davon behalten wollen, da es ihrer Mutter gehörte?“
„Nein!“, fuhr Sir William auf. „Ich will nicht, dass Sie ihr irgendetwas davon zeigen, hören Sie? Das alles ist sehr persönlich und liegt lange zurück. Rose hat sich wirklich genug aufgeregt. Wenn sie all das jetzt herausfindet, würde sie nur noch mehr leiden.“
„Was herausfindet?“, fragte Angelo.
Einen Moment lang dachte er, der Alte hätte ihn nicht gehört oder wollte nicht antworten. Doch dann erwiderte er: „Das Baby. Lisette …“ In der Erinnerung schien er den Schmerz erneut zu fühlen. „Es war in dem Sommer, in dem wir uns verlobt hatten. Sie war noch so jung … viel zu
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