Samurai 1: Der Weg des Kämpfers (German Edition)
Vision deuten, doch der alte Mönch gab sich wie immer dunkel und geheimnisvoll.
»Vielleicht ist der Schlüssel der ch ō -geri …« , murmelte Yamada mehr zu sich als zu Jack.
»Ch ō -geri?« , wiederholte Jack hoffnungsvoll.
»Richtig. Manchmal führt der Weg zum Verständnis des Geistes durch den Körper. In deiner Vision kam ein Schmetterling vor. Er entkam dem Dämon mit seinem Flattern. Vielleicht hilft der ch ō -geri dir weiter.«
»Wo finde ich ihn denn?«
»Das ist keine Frage des ›Wo‹, Jack-kun, sondern des ›Wie‹. Es handelt sich um eine vergessene altchinesische Kampftechnik. Sie heißt ›Schmetterlingstritt‹ und besteht aus einem Sprung, bei dem man alle Glieder ausstreckt – ähnlich wie der Schmetterling beim Fliegen die Flügel. Es handelt sich um eine sehr fortgeschrittene Technik, mit der man durch jeden Angriff brechen kann. Angeblich gibt es gegen den ch ō -geri keine Verteidigung.«
»Warum erzählen Sie mir davon, wenn niemand diese Technik mehr kennt?«, fragte Jack, der ständigen Rätsel Yamadas allmählich überdrüssig.
»Das habe ich nicht gesagt.« Yamada musterte Jack lange Zeit und Jack war unbehaglich zumute. Er hatte das Gefühl, der Sensei schaue irgendwie in seine Seele hinein.
»Ich könnte dir diese Technik beibringen«, sagte der Lehrer schließlich. »Aber womöglich übersteigt sie deine Fähigkeiten.«
»A-aber …«, stotterte Jack ungläubig. »Entschuldigen Sie die unhöfliche Frage, sind Sie für solche Sprünge nicht zu alt?«
»Oh, Blindheit der Jugend«, sagte Yamada und stand mithilfe seines Gehstocks auf.
Jack wollte sich gerade für seine Bemerkung entschuldigen, da ließ Sensei Yamada den Stock ohne Vorwarnung los und sprang hoch.
Sein Körper drehte sich, seine Arme beschrieben einen Bogen, seine Beine flogen nach außen und wirbelten über Jacks Kopf hinweg. Er vollführte eine ganze Drehung, dann landete er vollkommen sicher wieder auf dem Boden.
Jack sah mit offenem Mund zu, wie Sensei Yamada seelenruhig seinen Kimono ordnete, seinen Stock aufhob und sich anschickte zu gehen.
»Wie um alles in der Welt haben Sie das gemacht?«, stotterte er. »Woher können Sie das?« Die Beweglichkeit des Alten grenzte an ein Wunder.
»Beurteile ein Schwert nie nach seiner Scheide. Ich bin Mönch, Jack, aber was bin ich?«, sagte Yamada geheimnisvoll. Er blies die Kerzen aus und entfernte sich schlurfend.
Geisterhaft stiegen einige letzte gekräuselte Weihrauchfäden auf, dann war Sensei Yamada verschwunden.
Wie betäubt und noch immer fassungslos verließ Jack die Buddha-Halle. Der alte Mönch war mit der Anmut eines Schmetterlings durch die Luft geflogen und hatte ihn dann mit einer Rätselfrage allein gelassen.
Akiko und Saburo saßen auf der Treppe. Er ließ sich neben sie fallen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Akiko voller Mitgefühl. Der Unterricht schien Jack mitzunehmen.
»Alles bestens«, erwiderte Jack. »Aber ihr werdet nicht glauben, was ich eben erlebt habe …« Er erzählte ihnen von Sensei Yamadas erstaunlichen Fähigkeiten.
»Bei Buddha, Jack, das verstehe sogar ich«, rief Saburo erstaunt. »Er ist ein Soldatenmönch!«
»Ein Soldatenmönch? Aber ich dachte, die seien alle von Nobunaga getötet worden.«
»Offenbar nicht alle«, erwiderte Saburo mit einem ehrfürchtigen Blick auf die Buddha-Halle. »Ich wette, er kann allein durch sein Ki jemanden töten!«
»Da kommt Kiku«, sagte Jack. Das kleine Mädchen war aus der Halle der Löwen getreten und rannte über den Hof auf sie zu und die Treppe hinauf.
»Was ist?«, fragte Akiko sie besorgt.
»Yamato ist weggelaufen!«
7 »Je größer das Hindernis, desto größer der Ruhm, es überwunden zu haben.« Molière, französischer Dramatiker und Schauspieler
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Um Haaresbreite
»Jack-kun! Jack-kun! Jack-kun!«
Jack sah mit zusammengekniffenen Augen in die helle Sommersonne. Es würde wieder ein heißer Tag werden, dachte er. Die anfeuernden Rufe der versammelten Schülerschaft zogen ihn aus dem kühlen Schatten der Halle der Löwen nach draußen in den sengend heißen Hof.
Das vergangene Vierteljahr war mit einem mörderischen Übungsprogramm für Jack, Akiko und Saburo gefüllt gewesen. Über den zahlreichen Dingen, die sie lernen mussten, hatten sie den verschwundenen Yamato, an den sie zunächst oft gedacht hatten, fast vergessen. Jack wusste nicht mehr, wie viele Schläge sie schon mit dem Schwert geübt hatten und wie viele Pfeile sie beim Bogenschießen
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