Sanctum
»Hier war es, genau neben dem Wrack.«
Eric erinnerte sich, dass er diese Stelle passiert und nichts von der Nonne gesehen hatte. »Okay, Sie haben Recht. Da habe ich nicht gesucht«, log er. Sie sollte sich in Sicherheit fühlen. »Ich werde für Sie bei Ihrer Chefin ein gutes Wort einlegen.« Er folgte ihr und stand neben ihr. »Ich entschuldige mich für mein Misstrauen.«
»Ich verzeihe Ihnen«, gab sie zurück. »Und nun?«
Eric bückte sich. »Suchen wir.« Vorsichtig wischte er mit den Handschuhen die obere Schneeschicht zur Seite. Er erkannte gefrorenes Blut, Rußpartikel und kleine Splitter der Hubschraubertrümmer, denen die Spurensicherung keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Emanuela imitierte seine Vorgehensweise und durchstöberte das Weiß. Sie spielte ihre Rolle perfekt. Nach ein paar Stunden legten sie eine Pause ein, verzehrten ihre mitgebrachten Brote und tranken Tee aus der Thermoskanne.
»Ich wollte Ihnen noch einmal sagen, dass mir der Tod von Schwester Ignatia Leid tut.« Eric behielt seine Sonnenbrille auf, die Helligkeit tat seinem Kopf nicht gut. »Es war ein Unfall.«
»Mag sein.«
»Es ist so.« Er blies über seinen Tee, die Brillengläser beschlugen und die Frau verschwand im Dunst.
Emanuela schwieg, dann sagte sie überraschenderweise: »Ich muss mich ebenfalls entschuldigen. Immerhin wollte ich Sie bei unserem ersten Zusammentreffen töten.«
»Verständlicherweise. Weil Sie mich für einen Lycaoniten hielten«, sagte er und gab sich Mühe, freundlich zu klingen. Um sie zu überführen, musste er sie täuschen. Er sah sie nun wieder, weil der Hauch von den Gläsern verschwand.
»Trotzdem«, beharrte sie und kniff die Mundwinkel zusammen. Auf ihrer rechten Wange bildete sich ein Grübchen. »Zu Ihrem Glück bin ich keine Seraph.«
»Wie meinen Sie das?«
»So heißen die Schwestern in unserem Orden, die eine spezielle Ausbildung im Kampf erhalten haben. Schwester Ignatia und ich hatten sie angefordert, als wir sahen, wie sich die Lage zuspitzte, aber es war zu spät.« Sie schluckte. »Mit ihnen wäre es alles nicht so weit gekommen.«
»Und Sie meinen, eine Seraph hätte mich getötet?«
»Ja. Schneller, als Sie es für möglich halten!«
Eric ließ den Tee in seinem Becher kreisen. »Ist es nicht ein wenig anmaßend, sich wie ein Engel zu nennen?«
»Ganz im Gegenteil, sie verstehen es als eine Huldigung. Nach der Lehre von Dionysius Areopagita nehmen die Seraphim die höchste Rangstellung unter den neun Klassen der Engel ein«, sagte Emanuela, und auf ihrem Gesicht leuchtete das Feuer der Begeisterung. »Der Orden hat sich an den Darstellungen des späten Mittelalters orientiert, auf denen die Seraphim bei der Geburt Christi zu sehen sind. Wir von der Schwesternschaft des Blutes Christi sehen sie als ihre irdischen Helfer. Sie ehren und schützen das Kostbarste, was uns der Heiland an Irdischem hinterlassen hat. Wie die Erzengel tragen sie Rüstungen und Waffen, um sich dem Bösen entgegenzustellen. Sie …« Emanuela bezwang ihren Enthusiasmus, brach unvermittelt ab und trank hastig von ihrem Tee. »Ich fürchte, ich habe Ihnen schon zu viel erzählt.«
»Und ich habe es schon wieder vergessen. Es genügt mir, Sie einmal bei Faustitia angeschwärzt zu haben.« Eric war schon sehr gespannt, so eine Seraph kennen zu lernen. Er glaubte den Worten der Nonne, deren Begeisterung echt gewesen war. Dieses Leuchten in den Augen war unmöglich zu imitieren.
Sie lächelte, leerte ihren Becher und stand auf. »Machen wir weiter, bevor es dunkel wird. Sie müssen rechtzeitig zurück in der Pension sein, ehe der Mond aufgeht.«
»Sie haben Recht.« Eric schüttete seinen restlichen Tee in die Kanne zurück, schraubte sie zu und nahm seine mühsame Arbeit wieder auf.
Gegen Nachmittag, die Sonne senkte sich gefährlich über den Horizont und schien kaum mehr durch die Bäume, entdeckte er etwas.
Die Stelle, an der er im gefrorenen Schnee scharrte, war weiter vom Hubschrauber entfernt. Gesucht hatte er dort mehr aus Verzweiflung, weil das sonstige Umfeld nichts erbrachte. Auch Emanuela hatte bislang nichts gefunden, was aber vermutlich ihrer Absicht entsprach.
Eric hielt ein münzgroßes, von der Hitze verbogenes, teilweise geschmolzenes Stück Metall zwischen den Fingern, das ihn an einen Anstecker oder eine Medaille erinnerte. Ruß haftete auf den Ornamenten, hatte sich in die feinen Rillen gesetzt und machte die Verzierungen unleserlich.
Er gab sich keinen
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