Sanctum
ihrer Haut stach deutlich hervor, und sie wirkte von ihrer Statur her sehr burschikos. Abgesehen von dem Gesicht verriet wenig an ihr, dass sie eine junge Frau war. »Ich bin Bathseba. Wie geht es nun weiter, Monsieur Chastel?«
Er klopfte sich den Schmutz von seiner Hose und ordnete seinen weißen Zopf neu. »Ich werde überprüfen, ob ihr alle so gut wie Sarai seid, und dann werde ich euch von den Dingen erzählen, die mir auf der Jagd nach den Werwesen zugestoßen sind.« Er hatte die ersten Seiten der Listen dabei, die Gregoria für ihn bereits ins Französische übersetzt hatte. »Danach erfahrt ihr, welche verschiedenen Wandelwesen es auf der Welt gibt und was wir über sie wissen. Sie alle trachten danach, die Menschen zu verschlingen. Sie zeigen keine Gnade, und genauso werden wir gegen sie vorgehen. Sie müssen vernichtet werden.«
Jean sah in fünf entschlossene Gesichter und konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Doch, das war besser, als er noch vor einem Moment gedacht hatte. Viel besser sogar! Er machte einen Schritt zurück und hob die Fäuste.
»Bathseba, greif mich an.«
Gregoria sah auf die Uhr, die an der Wand hing und laut tickte. Es war kurz nach zehn, und Jean war immer noch nicht von seinem ersten Besuch bei den Seraphim zurück.
Sie saß seit Stunden über den Blättern des Atlas und übersetzte unermüdlich, die Feder tanzte nur so über das Papier. Die Erkenntnisse, die sie dabei gewann, machten ihr Angst. Es gab überall auf der Welt Werwesen und weit mehr Gattungen, als sie selbst in ihren schlimmsten Albträumen für möglich gehalten hätte. Ganz egal jedoch, in welchem Land sie ihr Unwesen trieben oder welche Gestalt sie wählten: Sie alle hatten sich dem Bösen und die meisten auch dem Töten verschrieben.
Gab es überhaupt Aussichten auf einen Erfolg?
Gregoria stand auf, ging in die Küche und bereitete sich einen Kräutertee zu. Wie können wir sie aufhalten? So viel Sanctum gibt es nicht, um sie alle von dem Fluch zu befreien. Sie beobachtete, wie die getrockneten Blüten auf der heißen Wasseroberfläche trieben und ihre Inhaltsstoffe an das Wasser abgaben. Es roch süß und erfrischend. Plötzlich verspürte sie einen starken Appetit auf Schinken mit … mit Honig? Die römische Luft hatte merkwürdige Auswirkungen auf ihren Geschmack.
Oder?
Es gab noch eine andere Erklärung, und die gefiel ihr gar nicht, obwohl sie wahrscheinlicher war. Seit vier Monaten war ihre Monatsblutung ausgeblieben – seit der Nacht, die sie mit Jean verbracht hatte. Sie strich über ihren noch flachen Bauch und lauschte in sich hinein, ob es weitere Anzeichen für eine Schwangerschaft gab. Sie hatte das Wunder der Geburt schon einmal erlebt, in ihrem früheren Leben als Comtesse. Das Kind, ein schönes, kleines Mädchen, war damals nach wenigen Wochen gestorben, und der Verlust hatte sie in tiefe Gram gestürzt.
Gregoria fühlte sich zu alt, um noch einmal Mutter zu werden; außerdem war es unmöglich, die Vorsteherin eines Ordens zu sein, der unter anderem Keuschheit verlangte, und dann ein Kind auf die Welt zu bringen.
Aber wenn es sich nicht mehr leugnen lässt … wie erkläre ich es?
Sie goss den Tee durch ein Sieb und legte die Kräuter zum Trocknen auf ein Küchentuch, weil man sie zweimal verwenden konnte. Dann kehrte sie in ihr Arbeitszimmer zurück und kam zu dem Entschluss, es gar nicht zu erklären. Sie würde – falls sie wirklich empfangen hatte – die Schwangerschaft verheimlichen und das Kind außerhalb von Rom gebären. Danach würde sie behaupten, sie hätte es aus einem Waisenhaus mitgenommen, um es großzuziehen. Es gefiel ihr nicht zu lügen, aber es gab keine andere Lösung. Womöglich würde ihr der Kardinal die Leitung des Ordens entziehen, und damit wäre Florences Rettung unmöglich.
Gregorias Gedanken schweiften ab … und plötzlich brachte die Lüge sie auf einen neuen Einfall.
Endlich wusste sie, wo sie die Mädchen für die Schwesternschaft vom Blute Christi finden würde! Waisenhäuser waren immer froh, wenn eine Nonne erschien und ihnen einige Heranwachsende abnahm. Mädchen ohne Vergangenheit, über die man später Nachforschungen anstellen konnte, ohne Verwandten, mit denen man sie unter Druck setzen konnte. Mädchen, die keine große Aussicht auf ein glückliches Leben hatten – und denen mit der Schwesternschaft eine Gemeinschaft und eine Zukunft gegeben wurden!
Sie würde ihre Idee mit Jean und anschließend mit Lentolo besprechen.
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