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Sanssouci

Sanssouci

Titel: Sanssouci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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Gespräch gab, mußten zwei sein. Erst wenn er sich ganz und gar erinnerte an diese Gewißheit der Einfachheit und der Einheit und des Guten von allem, was war, fiel seine Seele wie von selbst in ein Gebet. Dieser Zustand konnte Alexej seit einiger Zeit überall ereilen, wie zum Beispiel eben im Bahnhof Zoo auf Gleis fünf beim Warten auf den Regionalzug nach Potsdam. Daraus hatte sich ein gewisses Problem ergeben, weil Alexej in diesem Zustand, ohne es zu merken, eigenartig auf seine Umgebung wirkte. Er wirkte neuerdings sowieso eigenartig, allein schon wegen seiner Kutte. Wenn er wieder zu sich kam, dann schämte er sich immer ein wenig, und der Grund dafür war, daß er sich nach wie vor der Eitelkeit zieh. Immer wieder sah er in den Augen der anderen seine eigene Selbstüberhebung (er sah sie besonders dann, wenn die anderen ihn für einen »einfachen, andächtigen Mönch« hielten).
    Während er betete, trat der Mann auf ihn zu und sprach ihn an. Entschuldigung, sagte der Mann, es ist … vielleicht etwas seltsam, daß ich Sie jetzt anspreche, denn wir haben ja vorhin die ganze Zeit gemeinsam im Zug gesessen … (Alexej begriff erst nach einem Moment, daß jemand mit ihm sprach, er war gerade von einem hellen Licht, einer Liebe zu allen Dingen und einer Dankbarkeit für die Richtigkeit dieser Dinge, auch der Steine, auch der herumliegenden Papierfetzen, durchströmt) … aber dennoch möchte ich Sie fragen, heißen Sie zufällig Alexej Lipskij? Alexej stand auf, er hatte die Hände gefaltet. Der Mönch fühlte sich beim Aufstehen leicht wie eine Feder, als werde er nach oben gezogen. Er sah den, der ihn angesprochen hatte, zuerst gar nicht wirklich, sondern blickte durch ihn hindurch, sah seine Haare, sein Gesicht, seine Kleidung, schaute aber durch all das hindurch auf das, was dahinter lag, nämlich jene Einheit, deren Verlust jede Einzelerscheinung war, in der man aber gerade deshalb alles sah, immer alles. Die Welt war im Augenblick des Gebets ungeschieden. Sicherlich war der Mann verstört davon, wie Alexej ihn gerade anschaute, er mußte ja verstört sein … Übrigens, sagte sich Alexej, als er auf eine inzwischen schon routinierte Weise in den Zustand des Geteiltseins und der Unterschiedenheit zurückglitt (einfach aus Gründen der Höflichkeit, weil er kein »weiser Narr« sein wollte und auch nicht glaubte, einer zu sein), übrigens hat dieser Mann eben meinen Namen genannt. Woher kann er ihn wissen? Moment, jetzt begreife ich vielleicht, wen ich vor mir habe. Max Hornung hat oft von jemandem erzählt, einem guten Freund, den ichsogar einmal kennengelernt habe, aber nur wenige Sekunden, es war eine Begegnung auf der Straße, ich erinnere mich, aber ich erinnere mich an kein Gesicht, nur der Name ist mir nach wie vor geläufig, er lautete Mai, wie der Monat. Christoph Mai. Der Name fiel auch auf der Beerdigung.
    Sie sind Christoph Mai, sagte Alexej. Ja, sagte dieser, schaute ihn mit hellem Gesichtsausdruck an und schüttelte ihm freudig die Hand. Mai: Sie sahen so versunken aus, ich muß mich entschuldigen, aber erst als ich Sie hier auf dem Bahnsteig nach Potsdam gesehen habe, war mir klar, Sie könnten Lipskij sein. Wir sind uns einmal begegnet … Ja, ich weiß, sagte Alexej. Wir sind uns einmal in Frankfurt auf der Straße begegnet, eines Abends vor dem Theater bei einer Premiere, wir haben uns, glaube ich, sogar die Hände geschüttelt, aber ich hatte Ihr Gesicht vergessen, das heißt, vielleicht sollten wir uns nicht weiterhin siezen. Nein, sagte Mai, ich glaube, wir haben uns damals auf der Straße auch geduzt. Ich habe mir dein Gesicht damals zwar gemerkt, aber du hast dich verändert, ich hätte dich nie im Leben wiedererkannt, obgleich ich mir vorhin im Zug geradezu den Kopf darüber zermartert habe, ob du Lipskij bist … also ob du Alexej bist. Stimmt es, daß du deinen Namen abgelegt hast? Alexej: Nein. Ich bin ja ein normaler Staatsbürger geblieben und habe einen Paß. In meiner Bruderschaft heiße ich allerdings nur Bruder Alexej. Auch meine Post wird adressiert an Bruder Alexej. Die Familiennamen wissen wir oft nicht voneinander.
    Beide schüttelten sich noch einmal die Hand. Der Zugkam, sie stiegen ein. Mais Reise hatte, wie Alexej erfuhr, zwei Gründe. Zum einen war er als Verwalter von Max’ Nachlaß bestellt, und zwar durch ein Testament, das Max hinterlassen hatte. Zum anderen reiste Mai aus familiären Gründen nach Potsdam, zumindest nannte er das so und benutzte genau diese

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