Satori - Winslow, D: Satori - Satori
Tagesordnung – aus dem Kriegsdienst entlassene Soldaten schossen, raubten und vergewaltigten. Der Mob plünderte Kirchen, Geschäfte und die Häuser der Reichen. Frauen und Töchter von Bankdirektoren, Generälen und zaristischen Beamten verkauften sich als Prostituierte, um ihre hungernden Familien zu ernähren.
Nikolai wusste alles über die Petrograder Tscheka.
»Sie müssen mir nichts weiter erklären«, sagte Nikolai. »Ich kenne die Geschichten von meiner Mutter.«
Die Tscheka begann mit dem roten Terror, einem Vernichtungskrieg gegen die »Klassenfeinde«, und erschoss Dutzende, manchmal sogar Hunderte von »Weißgardisten« an einem einzigen Tag, ohne Verhandlung oder ordentlichen Prozess. Und Woroschenin beteiligte sich eifrig an dem Gemetzel. »Wozu ein Volkskommissariat für Justiz einrichten?«, hatte er einst bei einer Parteiversammlung gefragt. »Nennen wir’s einfach Volkskommissariat für Säuberungen und ziehen wir’s durch.«
Sie zogen es durch.
Seine Foltermethoden wurden zum öffentlichen Alptraum. Er band Weißgardisten auf Bretterbohlen und schob sie langsam in Schmelzöfen, er steckte Gefangene in Fässer, die mit Nägeln gespickt waren, und ließ sie Hügel herunterrollen, er schälte Inhaftierten die Haut von den Händen, um »Fleischhandschuhe« zu fertigen. Sein Name wurde zum geflügelten Wort, mit dem Mütter ihre Kinder erschreckten.
1921 war er an der blutigen Niederschlagung der aufständischen Matrosen in Kronstadt beteiligt. Anschließend konzentrierte er sich auf die streikenden Arbeiter in der Stadt, wo Kälte und Hunger herrschten. Mit Hilfe von Erschießungskommandos, Knüppeln und Folterkammern stellte er die Ordnung wieder her. Dann begann er, ganze Stadtviertel abzureißen, um Brennstoff für andere zu gewinnen. Bald wurde der aufstrebende Josef Stalin in Moskau auf ihn aufmerksam.
»Und dann taucht er in China auf«, fuhr Haverford fort. »Ausgerechnet in Schanghai.«
Tatsächlich schlachtete die Nationalarmee dort 1927 auf Stalins Betreiben hin die Kommunisten ab, und Onkel Joe war der Ansicht, Chiang Kai-shek könnte ein paar Tipps gut gebrauchen.
Nikolai war damals noch ein kleiner Junge gewesen, aber er konnte sich trotzdem daran erinnern. Er war durch die Straßen von Schanghai gestreift und hatte bereits die »Roten« von den »Grünen« zu unterscheiden gelernt. Als Tausende junger Roter erschossen, erdolcht und enthauptet wurden, bedeutete dies auch das Ende seiner Kindheit.
»In den darauffolgenden fünfzehn Jahren haben wir ihn aus den Augen verloren«, sagte Haverford. »Niemand weiß, wo er war oder was er getan hat, aber wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er sowohl an der Ermordung Trotzkis in Mexiko wie an dem von Stalin inszenierten und als Vorwand für die großen Säuberungen der dreißiger Jahre vorgeschobenen Attentat auf Sergei Kirow beteiligt war.«
Doch dann drohte Woroschenin selbst Opfer der Säuberungen zu werden. Der Verfolgungswahn des Diktators war so groß, dass er seine begabtesten und skrupellosesten Untergebenen inhaftieren und hinrichten ließ, vor allem jene, die etwas zu erzählen hatten, und so landete auch Juri in der Lubjanka, dem gefürchteten Moskauer Gefängnis.
Woroschenins Karriere hätte dort mit einer Kugel im Hinterkopf enden können. Doch wie gesagt, war er einer von denjenigen, die immer überleben, und er setzte all sein Können, seine List und seinen Mut darauf, die Verhöre zu überstehen. Er wurde zu einer so wertvollen Informationsquelle, dass man ihn nicht ohne weiteres hätte töten können, und so saß er drei lange Jahre in seiner Zelle, lauschte den Schreien der Männer, die weniger begabt waren als er, hörte, wie sie hingerichtet wurden, und wartete auf eine günstige Gelegenheit.
»Im Gefängnis lernt man, Geduld zu haben«, soll Woroschenin später einmal gesagt haben.
»So ist es«, pflichtete Nikolai bei, und Haverford errötete.
Als Hitler in Russland einfiel, wurden die Gefängnistore geöffnet. Stalin, der Gefahr lief, den Krieg zu verlieren, konnte es sich nicht länger leisten, seine besten Leute einzusperren. Woroschenin wurde schon bald rehabilitiert und freigelassen.
Juri landete also wieder einmal auf den Füßen.
Anstatt sich auf die tödlichen Schlachtfelder des Krieges gegen Deutschland schicken zu lassen, machte er sich seine früheren Verbindungen zur Kuomintang zunutze und ließ sich wieder nach China versetzen, wo er in Chongqing erneut auf Chiang
Weitere Kostenlose Bücher