Satori - Winslow, D: Satori - Satori
hatte ihn schon einmal festgenommen.
Unter der Folter hatte er mit dem Klang seiner eigenen Schreie Bekanntschaft gemacht, und als sie ihn wieder in seinen Käfig warfen, war es nur die Freundlichkeit seines Zellengenossen, die ihn am Leben erhielt. Er gab ihm Zuversicht, als er sterben wollte, und teilte mit ihm seine mageren Portionen Reis, die einzige karge Nahrung, die man ihnen zugestand.
Jetzt, zehn Jahre später, hinkte Xue Xin noch immer.
Er wusste, dass er eigentlich gar nicht mehr am Leben sein dürfte. Seine Peiniger hatten beschlossen, vor der Übernahme durch die Japaner alle Gefangenen umzubringen, und so hatte man sie alle auf ein Feld vor dem Gefängnis geführt, wo man ihnen spitze Stecken in die Hände drückte und sie ein tiefes Loch ausheben ließ.
Als das gemeinsame Grab fertig war, mussten sie sich in einer Reihe davor aufstellen. Xue Xin freute sich auf die Kugel, die sein Leben beenden sollte. Doch der Kommandant erklärte, die Gefangenen hätten keine teuren Kugeln verdient, und man würde ihnen stattdessen die Kehlen aufschlitzen.
Dann ging es los. Verschwommen sah er, wie silberne Klingen gezückt wurden und Blut umherspritzte. Xue Xin fiel rückwärts in das Loch und war froh, sterben zu dürfen. Es kam ihm vor, als wären Tage vergangen, bis er die Erde auf sich fallen spürte, und er wollte schreien, dass er noch am Leben war, doch er schluckte seine Angst und den Schmerz mit dem Sand.
In der Nacht kamen die Mönche.
Wie Geister stapften sie durch den Nebel und gruben mit bloßen Händen, zogen ihn sprichwörtlich aus dem Grab. Wochen später konnte er wieder stehen und weitere Wochen später gehen, wenn man es gehen nennen wollte. Jede Nacht hatte er schlimme Träume, wachte immer wieder in seinem Grab auf.
Jetzt ging Xue Xin an der lockeren Kachel auf der Brücke vorbei, zog geschickt die Nachricht heraus und steckte sie in seine Kutte. Mit der anderen Hand umklammerte er eine schlanke scharfe Klinge, die er für seinen Bauch bestimmt hatte, falls sie ihn holen wollten oder er merkte, dass sie ihm folgten.
Aber niemand folgte ihm.
Unbemerkt ging er durch das Nordtor in einen hutong nördlich des Zentrums und kauerte fünf Minuten später hinter einem Häuschen im schwachen Licht eines kleinen Funksenders, in den er die verschlüsselte Nachricht sprach.
Er trat aus dem Haus und rezitierte: »Om mani padme hung.«
Das Juwel ist im Lotus.
30
D ie Klinge fuhr tief in den Bauch der Beute.
Der Mann rang nach Luft und stolperte durch eine Gasse in der Nähe des belebten Marktplatzes von Luang Prabang, wobei er versuchte, seine Eingeweide wieder in seinen Bauch zurückzustopfen. Doch es war viel zu spät.
Die Kobra klappte das Messer zu, wandte sich ab und trat rasch aus der dunklen Gasse hinaus auf die Straßen der Stadt im Norden von Laos.
Das Ganze hatte mit einer gewissen »Operation X« zu tun, aber der Kobra war das egal. Es kam einzig und allein auf das Geld an, und dieser Kunde hier zahlte immer prompt und zuverlässig.
Die Kobra tastete nach dem Medaillon und glitt mit den Fingern über das eingeprägte Gesicht und den Schriftzug …
Per tu amicu.
Für deine Freundschaft.
31
A uf dem Platz des Himmlischen Friedens hatte sich eine große Menschenmenge versammelt.
Der Verkehr stockte. Nikolai schaute aus dem Fenster und sah einen Militärkonvoi – sowjetische Laster und amerikanische Jeeps – an der johlenden und grölenden Menge vorbeifahren.
Dann entdeckte er auch die Opfer ihres Hohns.
Hinten auf einem offenen Jeep, die Arme an die Körper gefesselt und von Soldaten der Volksbefreiungsarmee aufrecht gehalten, standen zwei Männer, der eine aus dem Westen, der andere Asiate. In einem weiteren offenen Laster hinter ihnen saß eine Abordnung von Soldaten auf der Ladefläche, die Gewehre aufgestellt. Einzelne Zuschauer lösten sich aus der Menge, warfen Abfall und verfaultes Gemüse, schrien Beleidigungen, rannten auf den Jeep zu und spuckten die Gefange nen an.
»Spione«, erklärte Chen und beobachtete Nikolais Reaktion. »Ein Italiener und ein Japaner. Sie wollten den Großen Vorsitzenden ermorden.«
»Wirklich?«
»Sie haben gestanden.«
Chens Wagen fädelte sich hinter dem Militärkonvoi ein, der langsam am Platz des Himmlischen Friedens vorbei auf den Himmelstempel zurollte. An der Himmelsbrücke stoppte die Parade, und die Menge umschwärmte die Wagen wie eine Amöbe. Soldaten zerrten die Gefangenen grob vom Jeep herunter und stießen sie auf den
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