Schatten ueber Broughton House
angeregte Diskussion über das harte Los der arbeitenden Klasse vertieft.
Erst als sie Schritte vernahmen, sahen die beiden Frauen wieder auf.
Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann kam die Treppe herab auf sie zu. Sein pechschwarzes, kräftiges Haar trug er ein wenig länger und zerzauster, als es üblich war, achtlos war es zurückgestrichen, sodass eine widerspenstige Locke ihm in die Stirn fiel. Hell leuchteten seine Augen in seinem gebräunten Gesicht, und als er näherkam, konnte Megan erkennen, dass sie von einem klaren, unwiderstehlichen Grün waren. Er hatte ein kantiges Kinn, hohe Wangenknochen und weiche, sinnliche Lippen, die einen interessanten Gegensatz zu seinen markanten Gesichtszügen bildeten.
Er war der bestaussehende Mann, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Ihre Blicke trafen sich, und ihr war, als würde ein Blitz sie durchfahren.
Nie zuvor hatte sie derlei empfunden. Es war fast wie ein Schlag, der sie ganz unerwartet traf, sie lähmte und überwältigte. Ihre Nerven waren zum Bersten gespannt, ihre Muskeln strafften sich, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Megan, diesen Mann zu kennen - nicht so, wie sie andere Menschen kannte, nicht einmal jene, die ihr schon lange vertraut waren, sondern auf eine tiefere, ursprünglichere Weise.
Noch während sie ihn anstarrte, blieb er unvermittelt stehen und sah sie gleichfalls wie gebannt an. Dann gab er sich einen sichtlichen Ruck und kam auf sie zu.
„Oh, da bist du ja!“, rief die Duchess erfreut und winkte ihn herbei. „Komm, mein Lieber. Ich möchte dir jemanden vorstellen.“
Bei ihnen angelangt, küsste er die Duchess auf die Wange, doch sogleich schweifte sein Blick wieder zu Megan.
„Mein Lieber, dies ist Miss Henderson. Sie wird die Jungs unterrichten“, teilte die Duchess ihm mit und wandte sich dann an Megan: „Und dies, Miss Henderson, ist mein ältester Sohn Theo.“
3. KAPITEL
Megan konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Das sollte der Mann sein, den sie seit zehn Jahren hasste?
„Miss Henderson.“ Theo deutete eine höfliche Verbeugung an. „Es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
Megan murmelte eine höfliche Erwiderung, wenngleich sie kaum wusste, was sie sagte. Es fiel ihr schwer, Ordnung in ihre wirren Gedanken zu bringen.
„Sie haben also den Mut, es mit den Zwillingen aufzunehmen“, fuhr er fort, und seine Augen funkelten vergnügt. Sollte es ihm seltsam erscheinen, dass eine Frau seine halbwüchsigen Brüder unterrichtete, so verbarg er es zumindest sehr gut.
„Ich ... ich bin mir nicht sicher ... ich meine ..." Megan schaute die Duchess fragend an. Hatte sie die Stelle tatsächlich bekommen? Sie mochte es kaum glauben, nur hatte es ja fast so geklungen.
„Entschuldigen Sie bitte“, meinte die Duchess nun. „Sie hatten nicht einmal Gelegenheit, die Stelle abzulehnen, nicht wahr? Ich muss gestehen, dass mein Eifer mich unhöflich hat werden lassen. Würden Sie die Stelle als Hauslehrerin annehmen, Miss Henderson?“
„Ja, selbstverständlich.“ Megan konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte angenommen, dass der Plan ihres Vaters scheitern würde, doch hier saß sie nun - im Kreis der Familie.
Sie warf Theo einen verstohlenen Blick zu und stellte fest, dass er sie beobachtete und unmerklich die Stirn runzelte. Auf einmal wurde sie von der panischen Vorstellung überkommen, dass er wusste, wer sie war und was sie hier wollte. Aber dann sagte sie sich, dass dies unmöglich sei. Lächerlich. Ihre Nerven waren nur ein wenig mit ihr durchgegangen und ließen sie schon Dinge sehen, die es gar nicht gab.
Als Theo seine Mutter anschaute, lächelte er, und Megan stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Diese nervöse Angespanntheit musste sie sich unbedingt abgewöhnen!
„Vielleicht möchte Miss Henderson die Zwillinge noch ein wenig besser kennenlernen, bevor sie sich entscheidet“, gab Theo schmunzelnd zu bedenken. „Hat sie bereits die Menagerie besucht?“
„Also wirklich, Theo“, entgegnete die Duchess beschwichtigend. „Vergraule Miss Henderson nicht gleich wieder, nachdem ich sie gerade erst gefunden habe.“
„Ich mag Tiere“, bemerkte Megan spitz, denn es ärgerte sie, dass Theo Moreland nun so gar nicht war, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. „Und die Zwillinge haben sich in einer schwierigen Situation durchaus höflich verhalten. Sie sind eben lebhafte Jungen, die ... die im Schulzimmer sicherlich nur etwas mehr gefordert werden
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