Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
Elbryans Tod erwachsen wurde, hatte er abermals den Namen Flinkfinger angenommen, diesmal ganz offiziell. Wie groß er geworden war! Noch dazu praktisch unter ihren Augen. Jilseponie erinnerte sich noch genau, wie sie sich gefreut hatte, als sie von Dainseys und Rogers Heirat, der Heirat ihrer beiden besten Freunde, erfahren hatte. Wie hatte sie die beiden in den letzten Monaten vermisst! Den ganzen Sommer über war sie immer wieder zu dem Zimmer geschlendert, das Roger normalerweise auf Chasewind Manor bewohnte, in der Hoffnung, mit ihm über ihre Abenteuer mit Danube sprechen zu können, nur um sich zu erinnern, dass er diesmal nicht auf sie warten würde.
Jilseponie war wirklich überglücklich, dass die beiden ihr jetzt, im vielleicht wichtigsten Sommer ihres Lebens, zur Seite standen.
Es war ein Tag mit zahlreichen Reden und viel Beifall, ein gleichermaßen feierlicher wie düsterer Tag, aber auch, ganz wie der Tanz des fallenden Laubes draußen, ein Tag erfüllt von lebendigem Treiben. Der frühere Abt und derzeitige Pfarrer Braumin machte mit einer ausführlichen Schilderung seiner Zeit in St. Mere-Abelle den Anfang und erwähnte auch Meister Jojonah, jenen Mann in der Gründungsabtei, der eingesehen hatte, dass der ehrwürdige Vater Markwart den Pfad der Tugend verlassen hatte und eigentlich der als Ketzer gebranntmarkte Avelyn Desbris zum Heiligen ernannt werden müsste. Im Laufe seiner ausführlichen Schilderung brach mehrfach Braumins Stimme, denn für die derzeitigen Anhänger der Lehren Bruder Avelyns und Meister Jojonahs war der Weg zum Sieg mit tragischen Zwischenfällen gepflastert gewesen. Avelyn selbst war tot, er war im selben Feuersturm verbrannt, mit dessen Hilfe er den Geflügelten am Berg Aida vernichtet hatte, und auch Jojonah lebte nicht mehr, verbrannt in den Flammen des Fanatismus von Vater Markwart.
Und auch Elbryan war tot, getötet von der Bestie in Marcalo De’Unnero und dem verderbten Geist Markwarts während der großen Entscheidungsschlacht des Dämonenkrieges.
»Wie treffend verkörperte die Bestie, die sich Marcalo De’Unneros bemächtigt hatte, doch jene Dunkelheit, die der Kirche selbst innewohnte«, bemerkte Pfarrer Braumin. »Sie war eine Macht, die Bruder De’Unnero zum Wohl des Abellikaner-Ordens einsetzen zu können glaubte, die aber auf dem Irrweg, den der ehrwürdige Vater Markwart eingeschlagen hatte, letzten Endes nur sehr viel Schönes in der Welt vernichtet hat.«
Bei diesen Worten sah er Jilseponie direkt ins Gesicht, und tatsächlich, der jungen Frau standen Tränen in den blauen Augen. Aber sie nahm sich zusammen, unterdrückte tapfer ihre Tränen, brachte sogar ein verhaltenes Lächeln zuwege und nickte Braumin zu, um ihm zu zeigen, wie sehr sie seine Darstellung der Geschichte billigte.
Pfarrer Braumin schloss mit der Ankündigung des nächsten Redners, Meister Fio Bou-raiy von St. Mere-Abelle.
Der scharfsichtigen Jilseponie entging keineswegs, dass sich der Mann vor diesem Forum weniger wohl fühlte als sein Vorredner. Er sprach überhastet, und seine Rede erschien Jilseponie sehr viel weniger überzeugend als die von Braumin.
Meister Bou-raiy war nicht mit dem Herzen bei der Sache: weder was diese Feier, diese Kapelle oder die Heiligsprechung Avelyns anbetraf, noch überhaupt etwas, das innerhalb der abellikanischen Kirche und mit ihr geschah. Er war ein Überlebender, kein Gläubiger; ein Opportunist und nachgerade von Ehrgeiz besessen.
Jilseponie nahm ihr persönliches Urteil ein wenig zurück und ermahnte sich, dass Bou-raiy, was immer seine Beweggründe sein mochten, auf derselben Seite kämpfte wie Braumin. Seine Motive waren vielleicht nicht ganz so ehrenhaft, aber spielte das wirklich eine Rolle, wenn sein Tun dem Wohl der Kirche und der Welt diente?
Bou-raiys Rede war kurz und endete mit der Bitte, Pfarrer Braumin möge abermals aufs Podium treten, ein etwas überraschender Schachzug, der aber durchaus Jilseponies Beifall fand. Sie wusste, der nächste Redner würde König Danube sein, und indem er Braumin die Ankündigung des Königs überließ, gestand er das gesamte Forum eben jenem Mann zu, der zukünftig der Kapelle von Avelyn vorstehen würde.
Pfarrer Braumin freute sich sichtlich über Meister Bou-raiys Entscheidung, denn obwohl er nur in die Kanzel steigen und den König bitten musste, ein paar Worte zu sprechen, wirkte er geradezu glücklich.
König Danube trat mit jener lässigen Selbstsicherheit vor das Publikum, die Jilseponie
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