Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
leidenschaftlichen Menschen zum ersten Mal vor sich sah. Jilseponie hatte in ihrem Leben schon viel erlebt, daher wusste sie, je größer die anfängliche Leidenschaft, desto schneller und grausamer die spätere Abkehr. Als sie den Fuß auf die Landungsbrücke setzte und den Blick über die Menschenmenge schweifen ließ, glaubte sie zu sehen, wie sich die jubelnden und strahlend lächelnden Gesichter plötzlich in zornig keifende und hässliche Grimassen verwandelten. Sehr viel Fantasie war dazu wirklich nicht erforderlich.
Zumal sich unter den Adligen auf dem Pier zwei Personen befanden, die die wenig erfreulichen Bemerkungen des Herzogs nur zu unterstreichen schienen – eben jene beiden Personen, die vermutlich bereits gegenüber Bretherford schlecht über sie gesprochen und damit die veränderte Einstellung des Mannes zu ihr noch gefördert hatten.
Wie immer standen Constance Pemblebury und Herzog Targon Bree Kalas an König Danubes Seite, und ihre Nähe zu jenem Mann, der bald ihr Gemahl sein würde, ließ Jilseponies Hoffnungen weiter sinken. Sie durchschaute das aufgesetzte, in ihre Gesichter eingebrannte Lächeln, hörte ihren Zorn in jedem Klatschen ihrer applaudierenden Hände. Insbesondere Constance sah Jilseponie unverwandt in die Augen, und dieser Blickkontakt verriet Jilseponie unmissverständlich, welchen Hass diese Frau für sie empfand.
Als sie von Bord der Flusspalast ging und lächelnd und winkend an Land trat, beherrschten Herzog Bretherfords Worte klar und deutlich jeden ihrer Gedanken.
Kaum hatte sie den Fuß auf den Hafenpier von Ursal gesetzt, da dämmerte ihr bereits, dass dieser Schritt den Anfang eines sehr schwierigen Weges bedeutete.
14. Der kleine Unterschied
Lange, sehr lange stand Marcalo De’Unnero da und betrachtete die in der Ferne liegende Ortschaft. Er und Sadye waren in der Hoffnung auf einen milderen Winter in das Gebiet südlich von Micklins Dorf gekommen. In den vergangenen Monaten hatten sie sich recht gut durchschlagen können; tatsächlich war ihr Leben weit weniger anstrengend gewesen als alles, was De’Unnero während der letzten zehn Jahre durchgemacht hatte. Mittlerweile hatte er es aufgegeben, den Wertiger zu leugnen, und auch Sadye benutzte ihre besänftigende magische Musik nicht mehr, um die Bestie in seinem Innern einzusperren, denn das überforderte ihre Kräfte bei weitem. Dabei hatte sie nicht einmal Angst vor der Bestie, im Gegenteil, sie mochte sie sogar. »Gibt es eine bessere Art zu jagen?«, bedrängte sie De’Unnero jedes Mal, wenn er Zweifel äußerte, ob er die Bestie herauslassen sollte.
Dank Sadyes Hilfe war es dem ehemaligen Mönch in den vergangenen Monaten gelungen, sein Elend in einem völlig neuen Licht zu sehen. War der Wertiger vielleicht nicht so sehr ein Fluch, sondern vielmehr ein Segen, eine Möglichkeit für De’Unnero, den Willen Gottes in die Tat umzusetzen und den oftmals mit Gewalt gepflasterten Pfad der Tugend zu beschreiten? De’Unnero war noch immer nicht sicher, ob er das wirklich glaubte oder ob er nur so tat, um seine durchaus reale Angst zu überspielen, er könnte sich in einen Dämon verwandelt haben. Dank Sadye und ihrem edelsteinbesetzten Instrument hatte De’Unnero jetzt eine ganz andere Seite des Wertigers kennen gelernt, und seine Gewalttätigkeit erschien ihm jetzt beherrschbar.
Sadye dagegen fürchtete sich überhaupt nicht vor dieser Kreatur, und es fiel ihr auch nicht schwer, De’Unnero zu überzeugen, sie in Ruhe zu lassen, wenn er die Gestalt des Tigers angenommen hatte; es war für sie ein Leichtes, ein mit Magie durchwobenes Lied anzustimmen, damit er seine gierigen Blicke von ihr abwandte und auf eine annehmbarere Beute richtete.
In diesem Winter hatten die beiden zu keiner Zeit Hunger leiden müssen.
Trotz alledem, trotz seiner wachsenden Hoffnung, ja sogar Überzeugung, hinter den reißenden Krallen des Tigers müsse sich irgendein Segen verbergen, trotz aller Beteuerungen Sadyes, sie könne die Bestie mit ihrem Musikinstrument im Zaum halten, lastete der nächste Schritt, zu dem sie sich entschlossen hatten, unangenehm auf Marcalo De’Unneros Schultern. Er betrachtete das Dorf auf dem Hügel vor ihnen, und sofort fiel ihm eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten mit Micklins Dorf auf. Fast sah er schon das Blut vor sich, das gegen die Wände spritzen und sie rot verfärben würde. Als er die Menschen sah, die sich im Dorf bewegten, hörte er fast schon ihre entsetzten Schreie …
Aber noch eine
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