Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
andere Vorstellung ließ De’Unnero nicht mehr los. Es war noch gar nicht lange her, da hatte Sadye hinter ihm am Lagerfeuer gesessen und eine einfache, hübsche Melodie auf ihrer Laute gezupft. Alles war friedlich und in bester Ordnung gewesen, als De’Unnero plötzlich das Blut eines gehetzten Hirsches witterte und das Gekläff der jagenden Meute hörte, die das zum Untergang verdammte Tier vor sich hertrieb. Bevor er recht wusste, wie ihm geschah, hatte De’Unnero gespürt, wie der Wertiger aus ihm hervorbrach und die primitive Bestie dem Ruf der Wildnis gehorchte.
Jetzt musste er wieder an dieses Gefühl, an diese alles beherrschende Gier denken. Er erinnerte sich, wie er sich zu Sadye umgedreht hatte, die einfach dasaß, ihren entblößten Körper von einer um ihre Schultern gelegten Decke nur mangelhaft verhüllt, die Laute vor sich auf dem Schoß. Wie einfach wäre es für ihn gewesen, ihr das Fleisch von den Knochen zu reißen! Ihre Haut in Fetzen zu reißen und ihr warmes, süßes Blut zu trinken! Entschlossen und gefasst wie nie zuvor, hatte Sadye daraufhin seinen Blick niedergerungen, auf ihrer Laute eben jene besänftigenden Klänge angestimmt und dazu mit ihrer beruhigenden Stimme gesungen. Auf diese Weise war es ihr tatsächlich gelungen, den Wertiger zu vertreiben und ihn dazu zu bewegen, sich der Hetzjagd auf den Hirsch anzuschließen, der den Wertiger überhaupt erst hervorgelockt hatte. So sehr das plötzliche und unerwartete Auftauchen des Wertigers sie überrascht hatte, wie sie später zugab, Sadye war es gelungen, ihn zu vertreiben.
Eins aber war De’Unnero klar – und das machte ihm am meisten zu schaffen, als er jetzt das ferne Dorf betrachtete –, Sadye hatte ihm nie, kein einziges Mal, helfen können, den Wertiger ganz in seine Schranken zu weisen. War die Bestie einmal da, schien Marcalo De’Unnero nur dann die Oberhand zurückgewinnen zu können, wenn er ihren mörderischen Hunger stillte – und das war alles andere als leicht.
Wie konnte – angesichts dieser erschreckenden Tatsache, dieser nagenden Erinnerung, dass es sich dabei doch um einen Fluch und nicht um einen Segen handelte – Sadyes Spiel den hilflosen Bewohnern dieses Dorfes helfen, falls sich der Wertiger tatsächlich zeigte?
»Es wird schon funktionieren«, versuchte Sadye ihn zu beschwichtigen, ging zu ihm, drückte seinen Arm und legte den Kopf an seine Schulter. »Du musst mir vertrauen, mein Geliebter.«
Ihre letzten Worte trafen De’Unnero bis ins Mark. Mein Geliebter. Er hatte nicht erwartet, diese Worte jemals aus dem Mund einer Frau zu hören. Mit zwanzig war er in die Abtei St. Mere-Abelle eingetreten und hatte sich, ein Leben im Zölibat erwartend und akzeptierend, mit Leib und Seele dem Orden verschrieben. Zu seiner Überraschung war die Lebensführung vieler abellikanischer Mönche alles andere als zölibatär, und auch De’Unnero hatte sich gelegentlich an ihren Vergnügungen mit den Huren beteiligt. Aber niemals hatten seine Affären mit diesen gestrauchelten Frauen etwas mit Liebe zu tun gehabt. Stets war es um eine rein körperliche Vereinigung gegangen, um Entspannung und Erleichterung, mehr nicht.
Und genauso würde es ihm auch mit Sadye ergehen, hatte er nach ihren ersten beinahe verzweifelten Liebesakten geglaubt. Sie war voller Glut und Leidenschaft, ihre Augen sprühten Feuer, und ihr Körper schien sich nach seinem geradezu zu verzehren.
Darüber hinaus besaß sie aber auch eine ganze Reihe anderer Qualitäten, was De’Unnero durchaus nicht entgangen war; sie war zärtlich und nachdenklich und erkannte die Fehler ihrer Umgebung mit geradezu brutaler Ehrlichkeit. Aber es war ihre Verletzlichkeit, die De’Unnero am meisten an ihr mochte. Sadye war der stärkste Mensch, dem De’Unnero jemals begegnet war; sie fürchtete sich nicht einmal vor der mörderischen Bestie, die unmittelbar hinter De’Unneros äußerer Erscheinung lauerte. Trotzdem hatte sie ihm ihr Herz geöffnet und sich ihm von ihrer offensten und verletzlichsten Seite gezeigt. Ja, genau das war ihr Liebesspiel gewesen, eine nie zuvor gekannte Gemeinsamkeit und Offenheit, die De’Unnero geglaubt hatte nur im tiefsten Zwiegespräch mit Gott erfahren zu können.
Jetzt war seine Liebe zwar weltlicher Natur, aber sie erschien De’Unnero in vielerlei Hinsicht spiritueller als alles, was er jemals in St. Mere-Abelle erlebt hatte.
Gemeinsam betraten sie Hand in Hand das winzige Dorf mit Namen Masur Tuber.
Festertool war
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