Schattenherz
Mystarrias beherbergt, all jene, die ihre Geistes-oder Muskelkraft, ihren Stoffwechsel, ihre Anmut oder ihre Stimme abgetreten hatten. Der Legende zufolge war die Burg von einem vergessenen Volk der Riesen gestaltet worden.
Roland stürzte an ein paar Menschen im Turm vorbei und schob eine dicke Frau zur Seite. Sera mußte rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Er ergriff ihre Hand, bahnte sich seinen Weg durch die verstopften Flure und drängte sich an anderen Menschen vorbei, bis er und Sera endlich über den Rand eines Balkons in eine elegante Halle hinabblickten, in der sich bereits Tausende von Übereignern versammelt hatten – den Großen Saal.
Dort herrschte großes Gerufe und Gebrüll, einige Menschen schrien lauthals nach Nachrichten, andere weinten ganz offen aus Liebe zu einem untergegangenen König. Eine alte Frau kreischte, als hätte man ihr das Kind von der Brust gerissen und auf den Steinfliesen zerschmettert. Roland fand seine Vermutung bestätigt, als Sera erklärte: »Das ist die alte Laras.
Sie ist hier Köchin. Ihre Jungs befinden sich im Gefolge des Königs. Sie sind bestimmt ebenfalls tot!«
Die jetzt wiederhergestellten Übereigner versammelten sich unten in dem großen Saal, zusammen mit den Köchen und Dienern, die sich normalerweise um die hier im Blauen Turm untergebrachten Übereigner kümmerten. Es herrschte ein gedrängtes Gewühl. Als ein stämmiger Kerl auf einen anderen einzuschlagen begann, folgte dem Streit ein allgemeines Durcheinander. Inzwischen schrien die, die Neuigkeiten erfahren wollten, alle anderen im Gedränge nieder, sie sollten den Mund halten. Der Tumult hallte ohrenbetäubend von den Wänden wider.
Der Große Saal besaß eine gewaltige Kuppeldecke von gut siebzig Fuß Höhe, und auf fünf Stockwerken zogen sich Balkone um den Saal. Wenigstens dreitausend ehemalige Übereigner hatten sich im Saal, in jedem Türdurchgang und Treppenhaus versammelt und quollen auf sämtlichen Baikonen über die Eichengeländer.
Das Ausmaß dessen, was sich dort abspielte, vermochte er kaum zu erfassen. Tausende von Übereignern gleichzeitig wiederhergestellt? Wie viele tapfere Ritter waren im Kampf gefallen? Und das in so kurzer Zeit!
Dann nahmen sieben Männer unterschiedlichen Alters an einem mächtigen Eichentisch Platz. Einer von ihnen begann mit einem riesigen Messingkandelaber gegen den Tisch zu hämmern und brüllte: »Ruhe! Ruhe! Wir wollen alle die Geschichte hören! Die Geistesgaben des Königs können sie am besten wiedergeben!«
Bei diesen Männern handelte es sich um die ›klugen Köpfe‹
des Königs, Männer, die König Mendellas Val Orden
persönlich den Gebrauch ihres Verstandes abgetreten und dadurch ihre Köpfe zu einem Gefäß für die Erinnerungen eines anderen Mannes gemacht hatten.
Der König war zwar tot, dennoch lebten Bruchstücke seiner Gedanken und seines Erinnerungsvermögens in jedem dieser wiederhergestellten Männer fort. In den folgenden Tagen würden sie wahrscheinlich zu geschätzten Beratern des neuen Königs werden.
Kurz darauf zerrte man die schreiende Alte aus dem Großen Saal, da die anderen ihr Geschluchze und Gebrüll nicht mehr ertrugen. Sera Crier drückte sich an Rolands Rücken und kletterte halb auf seine Schultern, um den Aufruhr unten besser verfolgen zu können.
Roland kam es fast so vor, als hätte die Menschenmenge in völliger Übereinstimmung geatmet, als hätte jeder einzelne von ihnen leise, mit verhaltenem Atem, darauf gewartet, Neuigkeiten von der Schlacht zu erfahren.
Dann sprachen die klugen Köpfe des Königs. Der älteste von ihnen war ein Graubart namens Jeremias. Roland hatte ihn damals, als Kind, bei Hofe kennengelernt, jetzt konnte er ihn allerdings kaum wiedererkennen.
Jeremias ergriff als erster das Wort. »Der König ist während einer Schlacht gestorben, das ist sicher«, berichtete er. »Ich erinnere mich an einen Gegner. An einen Mann mit finsterem Gesicht, bekleidet mit der Rüstung des Südens. Sein Schild trug das Abbild eines roten Wolfes mit drei Köpfen.«
Es war das Bruchstück einer Erinnerung, ein Bild. Mehr nicht.
»Raj Ahten«, vermuteten daraufhin zwei der anderen klugen Köpfe. »Er hat mit Raj Ahten gekämpft, dem Wolflord.«
»Nein. In dieser Schlacht ist unser König nicht gestorben«, führte ein vierter kluger Kopf. »Er ist von einem Turm gestürzt. Ich erinnere mich daran zu fallen.«
»Man hat sich mit ihm zu einem Schlangenring zu—
sammengeschlossen«, fügte der alte
Weitere Kostenlose Bücher