Schattenkrieger: Roman (German Edition)
ist er«, flüsterte sie andächtig. »Der Schamane kommt.«
Yllandris entdeckte einen großen schwarzen Raben, der hoch über ihnen auf der Dachkante hockte. Er betrachtete die Versammlung mit seinen Knopfaugen, dann stürzte er sich hinab. Schlage unten auf und stirb, dachte sie inbrünstig, doch der Vogel fing den Sturz im letzten Augenblick ab und landete unversehrt im Schnee. Er flimmerte und streckte sich erst in die eine und dann in die andere Richtung und entfaltete sich wie ein Stück Pergament. Ihr tat der Kopf weh, während sie beobachtete, wie er an Masse und Größe zunahm. Als das Flimmern endlich abklang, stand der Schamane vor ihnen.
Die versammelten Hochländer verstummten. Wie immer war der Magierfürst nackt bis auf ein Paar zerlumpte alte Hosen. Die braune Haut glänzte vor Schweiß, obwohl es im Freien eiskalt war. Er schien die Kälte jedoch nicht zu spüren. Aus dem kantigen, zornigen Gesicht starrten blaue Augen, die so unfreundlich waren wie ein Gletscher. Yllandris duckte sich unwillkürlich, als der Blick sie streifte. Es schien ihr, als könnten diese Augen sie entblößen, damit die ganze Welt ihr Inneres entdecken konnte.
Schließlich wandte sich der Schamane an den zusammengesunkenen Mehmon. Yllandris wurde bewusst, dass sie vor Furcht den Atem angehalten hatte. War sie tatsächlich auf die Idee gekommen, sie könne gegen diesen Unsterblichen ein Komplott schmieden? Gegen diesen Gottesmörder? Der Gedanke schien ihr jetzt ebenso absurd wie die Vorstellung, sie könne die Arme ausstrecken und den Mond vom Himmel pflücken.
»Mehmon«, grollte der Schamane. »Du bist schuldig, weil du dich dem Willen deines Königs widersetzt und den Vertrag gebrochen hast, dem alle Hochländer unterworfen sind. Die Strafe für die Rebellion ist der Tod durch das Feuer. Sprich deine letzten Worte.«
Der alte Hochländer hob den Kopf und hustete. »Rebellion?«, quetschte er heraus. »Das ist ein Witz. Man kann mir höchstens vorwerfen, dass ich mich um mein Volk gekümmert habe.«
Der Schamane verschränkte die mächtigen Arme vor der Brust. Seine Muskeln waren wie geflochtener Stahl. »Du hast dich geweigert, Tribut zu leisten. Die Fische, die im Schwarzwasser schwimmen, und die Hirsche, die durch die Wälder streifen – all das gehört mir.« Er knurrte und bleckte dabei die Zähne. »Du hast den Vertrag gebrochen und mir gestohlen, was mir zusteht. Deine Rechtfertigungen interessieren mich nicht. Die Schwachen verdienen den Tod. So war es schon immer.«
»Verrückt«, murmelte Mehmon. »Du bist verrückt. Ich hätte mit dem Schwert in der Hand Kayne helfen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«
Die Schwestern und die Einwohner, die nahe genug waren, um Mehmons Antwort zu hören, keuchten wie aus einem Munde. Der Schamane schwieg, doch Yllandris konnte sehen, wie in seinem Hals eine Ader pochte, als er die Zähne zusammenbiss. Jeder Mensch in Herzstein wusste, dass man nicht über das Schwert des Nordens reden durfte. Die wundersame Flucht des berüchtigten Kriegers setzte dem Schamanen immer noch zu, denn nur dank seines Versagens hatte der Mann entkommen könnten. Schwäche war aber etwas, das der Magierfürst nicht duldete – ganz besonders nicht bei sich selbst.
»Wie viele Brüder hast du Kayne hinterhergeschickt?«, fuhr Mehmon fort. Er schaffte es sogar, ein Kichern über die ausgedörrten Lippen zu bekommen. »Ich habe gehört, er hat sie schön an der Nase herumgeführt. Eine Schande, dass die blutleere Marionette auf dem Thron nicht den Mumm des Vaters geerbt hat.« Er spuckte in die Richtung des Königs aus, doch er war viel zu schwach, und der schäumende Speichel rann ihm über das Kinn.
Abermals keuchten die Zuschauer, und aller Blicke richteten sich auf Magnar. Magnar Kayne, der jüngste Mann, der je die Hohen Klippen im Namen des Schamanen regiert hatte. Er hatte gegen Brodar Kayne, das Schwert des Nordens, für den Magierfürsten Partei ergriffen.
Gegen den eigenen Vater hatte er sich gewandt.
Magnars Treue zum Schamanen hatte ihm die Achtung der zehn Häuptlinge der Gemarkungen eingebracht. Achtung und auch Furcht empfanden sie vor ihm, denn wenn er sogar die eigene Mutter und den Vater zum Tode verdammen konnte, was würde Magnar Kayne erst einem Häuptling antun, der ihn verriet?
Die Qualen, die Yllandris in den Augen von Vater und Sohn an dem Tag gesehen hatte, als Mhaira verbrannt wurde, würde sie ihr Lebtag nicht vergessen. Sie erinnerte sich genau an Brodar
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