Schattenmenagerie
Beisetzung weinte ich sehr. – Ich kann mich noch heute
an jedes Detail erinnern. Irgendein Unbekannter, wahrscheinlich ein Arbeitskollege
meiner Mutter, tröstete mich und wischte mir mit seinem Taschentuch die Tränen ab.
Für den kurzen Augenblick half es, aber nach drei Tagen legte sich ein grauer Schleier
über meine Augen, der von Jahr zu Jahr stärker wurde, bis ich bald nichts mehr sehen
konnte. Die Ärzte erklärten, es sei ein Trachom, eine bakterielle Entzündung. –
In meinem Falle unheilbar. Teure Spezialisten konnte ich als Waisenkind nicht aufsuchen.
So blieb mir einfach nichts anderes übrig, als mich mit meinem Schicksal abzufinden
und das Beste daraus zu machen.
In meinem Zimmer, unter dem Bett,
steht ein alter, zerbeulter Lederkoffer. Darin bewahre ich die wenigen Andenken
an meine Mutter auf, die mir geblieben sind: Dokumente, Fotos, einen Teddy, ihren
Ehering. Und auch das Taschentuch, mit dem ich damals meine letzten Abschiedstränen
trocknete.
Ich begann, die Blindenschrift zu
erlernen. – Und heute ist meine Blindheit zwar ein körperliches Handicap, aber geistig
und musikalisch schadet sie mir nicht – glaube ich wenigstens.«
»Da bin ich mir auch sicher. Ich
weiß, du wirst es schaffen.«
»Danke, dass du so lieb an mich
glaubst. Das tut gut. – Übrigens habe ich bald meinen ersten großen Auftritt!«
»Oh, super. Erzähl!«
»Oben am Ukleisee, nicht weit von
hier, steht ein Jagdschlösschen. Die Besitzerin, eine gewisse Frau von Bülow, hat
es renovieren lassen und will ein feierliches Eröffnungskonzert geben, bei dem sie
mich als Pianistin eingeladen hat.«
»Wow! – Ich beneide dich, dass du
so perfekt bist.«
»Ach was, von wegen perfekt. Ich
glaube, das Wichtigste als Musiker ist nicht die Perfektion, sondern vielmehr der
Ausdruck. – Vielleicht ist das meine Stärke: Ich muss weder die Noten, noch die
Tasten, noch die Zuhörer sehen. Das lenkt nur ab. Ich bin viel direkter an der Musik,
als viele meiner sehenden Kollegen. In meinem Kopf ist nichts als Klang. Der reine
Klang. Ich gestalte ihn einzig von meinem inneren Auge aus. Das äußere Drumherum
würde mich nur ablenken. – Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. – Aber der
Klang ist mein Leben. Er ist meine Seele. Und ich kann ihn mit meinen Händen so
differenzieren, wie eine menschliche Seele eben unendlich viele Schattierungen hat.«
»Du sprichst ja wie die Erwachsenen.
Seele … – Was ist das schon?«
Viviana lachte kurz auf und legte
ihren Arm um Michas Schulter.
»Ich bin ja auch eine Erwachsene!
Ich weiß schon, wo meine Seele liegt. Deshalb fühle ich mich auch in der Lage, Carl
Marias Musik zu vollenden. – Weißt du was? Komm doch bitte auch zu meinem Konzert.
Ich würde mich freuen. Und nimm deinen Onkel mit. Noël, Antonio und ein paar von
den anderen werden auch da sein.«
Genau in diesem Moment hupte es
von der nahen Straße her.
»Das wird Onkel Michel sein! Wie
gerufen, als ob er dich gehört hat. – Du hast wohl magische Kräfte! Heute soll es
wieder auf Verbrecherjagd gehen.«
Micha sprang auf, aber die Ältere
hielt sie mit einer raschen Handbewegung zurück.
»Warte, ich muss dir noch etwas
sagen. Ich möchte nicht, dass es dein Onkel mitbekommt.« Micha setzte sich etwas
irritiert auf die Bank zurück. »Es ist …«, druckste Viviana verlegen, »du sollst
wissen, dass wir vom 1. FC Eutin inzwischen auch nicht untätig waren. Du weißt,
dass uns der Tod des Grafen Stolberg sehr nahe gegangen ist. Auch wir haben ein
großes Interesse an der Aufklärung des Falles. Deswegen haben wir uns unter Antonios
Führung an die Arbeit gemacht und uns hier in der Umgebung sorgfältig umgeschaut.
– Und wir haben eine Menge entdeckt.«
»Find ich super! – Aber erzähl das
doch gleich alles meinem Onkel. Das wird ihn bestimmt weiterbringen.«
»Nein, genau das möchte ich nicht.
Genauer gesagt: Der 1. FC Eutin hat beschlossen, die Polizei nicht in unsere Angelegenheiten
einzuweihen. – Ich will und kann dir hier nicht unsere Gründe nennen. Aber bitte
glaube mir, es ist für alle besser, wenn wir und die Polizei getrennte Wege gehen.«
Viviana machte eine kurze Pause
und legte ihren Arm um die Schultern ihrer neuen Freundin. »Und außerdem haben wir
so unsere eigenen Methoden. Es wird nicht zum Nachteil deines Onkels sein, wenn
ich selbst dir gegenüber nichts Näheres verrate. – Bitte vertraue mir. – Und vor
allem: Vertraue meiner Musik. – Schließlich bist du kein Kind
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