Schattennacht
quitt.«
29
Die Brüder, die auf dem Gelände der Abtei bestattet werden wollten, wurden in einem schattigen, kleinen Friedhof am Waldrand begraben. Es war ein friedlicher Ort. Die Geister derer, die dort ruhten, waren alle aus dieser Welt weitergezogen, vielleicht mit Ausnahme von Bruder Constantine.
Ich hatte zwischen den Grabsteinen viele angenehme Stunden verbracht, begleitet nur von Boo. Er beobachtete gern die Eichhörnchen und Hasen, während ich ihn streichelte und ihn hinter den Ohren kraulte. Manchmal jagte er den Tierchen hinterher, aber sie hatten keine Angst vor ihm. Selbst als er noch richtig scharfe Zähne hatte, war er kein Jäger.
Als hätten meine Gedanken ihn hergerufen, wartete Boo an der Kreuzung der zwei Flure auf mich.
»Na, Alter, was tust du denn hier unten?«, fragte ich.
Schwanzwedelnd kam er auf mich zu, ließ sich auf dem Boden nieder und drehte sich auf den Rücken. Dann streckte er alle vier Pfoten in die Luft.
Eine solche Einladung können nur hartherzige und sinnlos hektische Zeitgenossen ausschlagen. Gefordert wird dabei nämlich nur Zuneigung, angeboten hingegen alles, was durch die Geste des ungeschützten Bauchs ausgedrückt wird.
Hunde laden uns nicht nur ein, an ihrer Freude am Leben teilzunehmen, sie leben auch im Augenblick, dem Zeitpunkt, auf den wir nicht zugehen und von dem wir uns nicht entfernen.
Sind wir ganz im Augenblick, so können uns weder der Zauber der Vergangenheit noch jener der Zukunft ablenken. Die Freiheit vom ständigen Verlangen nach irgendwelchen Dingen und der Stillstand unserer sonst rastlosen Aktivität ermöglicht es uns, die Wahrheit unserer Existenz zu erkennen, die Realität unserer Welt und deren Sinn – sofern wir wagen, uns darauf einzulassen.
Ich kraulte Boo lediglich zwei Minuten lang am Bauch und setzte dann meine übliche rastlose Aktivität fort, nicht weil dringende Aufgaben auf mich warteten, sondern weil ein kluger Mensch einmal bemerkt hat, die Menschheit vertrage nicht sehr viel Realität. Ich bin halt gar zu menschlich.
Die große Tiefgarage wirkte wie ein Bunker, denn hier war man von oben, von unten und von allen Seiten mit Beton umgeben. An der Decke waren Neonröhren angebracht, die ein hartes Licht warfen, aber zu weit voneinander entfernt waren, um alle Schatten zu zerstreuen.
Insgesamt sieben Fahrzeuge standen hier bereit: vier kompakte Personenwagen, ein bulliger Pick-up und zwei verlängerte Geländewagen mit übergroßen Reifen, Ketten und Schneepflug.
Eine Rampe führte zu dem großen Rolltor hoch, hinter dem der Wind heulte.
An der Wand war ein Schlüsselkasten angebracht, in dem an sieben Haken vierzehn Schlüssel hingen, zwei für jedes Fahrzeug. Darüber stand jeweils das Kfz-Kennzeichen, das sich auch am Anhänger jedes Schlüssels befand.
Hier hatte man tatsächlich an jedes Detail gedacht.
Ich schlüpfte in meine Jacke, setzte mich ans Lenkrad eines Geländewagens und ließ den Motor an, um auszuprobieren, wie man den Schneepflug hob und senkte.
Als ich wieder ausstieg, stand Boo da. Er sah mich an, legte den
Kopf schief, stellte die Ohren auf und schien zu sagen: Was ist denn nur mit deiner Nase los, Kumpel? Riechst du nicht denselben Trouble wie ich?
Dann trottete er davon. Als er den Kopf drehte und sah, dass ich ihm folgte, führte er mich aus der Garage in den Flur zurück.
Boo war nicht Lassie, und ich erwartete nicht, ein relativ einfach zu lösendes Problem vorzufinden wie beispielsweise den in einen Brunnen gefallenen oder in einer brennenden Scheune gefangenen Timmy.
Vor einer geschlossenen Tür blieb der Hund stehen. Es war dieselbe Stelle im Flur, an der er mir angeboten hatte, ihm den Bauch zu kraulen.
Vielleicht hatte er mich schon vorher dazu bringen wollen, dort stehen zu bleiben, damit meine berühmte Intuition eine Chance hatte, sich in Gang zu setzen. Da ich jedoch darauf fixiert gewesen war, in die Garage zu kommen, und mir zudem ständig die vor mir liegende Fahrt im Kopf herumgegangen war, hatte ich zwar kurz innegehalten, war jedoch nicht in der Lage gewesen, etwas zu sehen und zu spüren.
Jetzt spürte ich durchaus etwas. Ein feines und doch anhaltendes Ziehen, als wäre ich ein Fischer, an dessen in die Tiefe geworfener Leine sich etwas verfangen hatte.
Boo trottete in den verdächtigen Raum. Nach kurzem Zögern folgte ich ihm, ließ die Tür hinter mir jedoch offen. In solchen Situationen, in denen mein Magnetismus mich in der Gewalt hat, bin ich mir nämlich nie
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