Schattennacht
er zum Zeichen der Zustimmung den Daumen.
»Weißt du was? Jeder, der nach dem Tod auf die andere Seite hinübergeht, begreift plötzlich, wie unheimlich töricht er auf dieser Welt war, selbst wenn ihm das vorher überhaupt nicht klar gewesen ist. Deshalb versteht jeder, der dort drüben ist, alle Leute hier besser, als wir uns selbst verstehen – und vergibt uns unsere Torheit.«
Er wusste, dass ich damit meinte, seine geliebte Mutter werde ihn voll Freude begrüßen, nicht mit Enttäuschung und schon gar nicht mit Beschämung darüber, dass er sich in seinem Leben nicht anders verhalten hatte. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Denk einfach mal darüber nach«, sagte ich.
Er biss sich auf die Unterlippe und nickte.
Aus dem Augenwinkel sah ich etwas durch den Schnee sausen. Mir blieb fast das Herz stehen, doch als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es nur Boo war.
Mit hündischer Ausgelassenheit schien er den Abhang wie auf Schlittschuhen zu überwinden. Er freute sich einfach an dem
winterlichen Schauspiel. Als weißer Hund, der durch eine weiße Welt rannte, beeinträchtigte ihn die feindliche Landschaft genauso wenig, wie er sie beeinträchtigte.
Nachdem wir die Rückseite der Kirche umrundet hatten, fuhren wir auf den Eingang des Gästehauses zu, wo die Brüder uns erwarten sollten.
Elvis hatte sich aus einem sorgfältig frisierten Hillbilly in einen Arzt verwandelt. Er trug einen weißen Kittel, um den Hals hing ihm ein Stethoskop.
»Ach, genau! Du warst mal in einem Film mit Nonnen: Ein himmlischer Schwindel. Einen Arzt hast du da gespielt. Mary Tyler Moore war eine Nonne. Kein unsterbliches Kino, aber verglichen mit dem gemeinsamen Werk von Ben Affleck und Jennifer Lopez auch nicht ausgemacht dämlich.«
Elvis legte die rechte Hand auf die Brust und machte eine klopfende Bewegung, um einen raschen Herzschlag anzudeuten.
»Du warst in Mary Tyler Moore verliebt?« Als er nickte, sagte ich: »Alle haben Mary Tyler Moore geliebt. Aber im wahren Leben wart ihr nur Freunde, stimmt’s?«
Wieder nickte er. Nur Freunde. Er klopfte wieder auf sein Herz. Nur Freunde, aber er hatte sie geliebt.
Vor dem Eingang des Gästehauses bremste Rodion Romanovich.
Während ich vorsichtig hinter dem Wagen des Russen zum Stehen kam, steckte Elvis sich die Bügel des Stethoskops in die Ohren und drückte mir den Schalltrichter an die Brust, als wollte er meinen Herzschlag hören. Sein Blick war bedeutungsschwer und sorgenvoll.
Ich stellte den Schalthebel auf Parken, zog die Handbremse an und sagte: »Junge, mach dir wegen mir bloß keine Sorgen! Verstanden? Egal, was geschieht, ich stehe das schon durch. Wenn mein Tag gekommen ist, bin ich bereit, aber in der Zwischenzeit
stehe ich es durch. Tu, was du tun musst, und mach dir meinetwegen keine Sorgen.«
Er ließ das Stethoskop auf meiner Brust.
»Du warst mir eine große Hilfe in einer schweren Zeit«, sagte ich, »und deshalb wäre es toll für mich, wenn ich dir auch endlich helfen könnte.«
Er legte mir die Hand auf den Nacken und drückte sanft zu. Ich konnte mir vorstellen, dass man so unter Brüdern seine Gefühle äußerte, wenn man keine passenden Worte fand.
Ich öffnete die Tür und stieg aus dem Geländewagen. Der Wind war eiskalt.
36
Von der bitteren Kälte zusammengebacken, hatte der fallende Schnee alle Weichheit verloren. Die Flocken waren fast wie Körner, die mir im Gesicht brannten, während ich durch einen halben Meter Pulverschnee zu Rodion Romanovich watete, der nun ebenfalls aus seinem Wagen kletterte. Wir hatten beide den Motor und die Scheinwerfer angelassen.
»Wir werden den Brüdern beim Einladen ihrer Sachen helfen müssen«, brüllte ich in den Wind. »Sagen Sie ihnen, dass wir hier sind. In meinem Wagen ist die hintere Sitzbank heruntergeklappt. Ich komme rein, sobald ich sie aufgestellt habe.«
In der Tiefgarage des Internats hatte der Sohn einer Attentäterin mit seiner Bärenfellmütze und seinem pelzbesetzten Ledermantel ein wenig theatralisch ausgesehen, aber mitten im Sturm war er ganz in seinem Element. Regelrecht majestätisch sah er aus, als wäre er der König des Winters und könnte dem fallenden Schnee mit einer Handbewegung Einhalt gebieten.
Statt sich vorzubeugen und den Kopf einzuziehen, um dem beißenden Wind zu entkommen, stand er aufgerichtet da. Dann schritt er so großspurig ins Haus, wie man es von einem Mann erwarten konnte, der einmal andere Leute für den Tod vorbereitet hatte.
Sobald er
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