Schattentänzer
Sieh an. »Warum habe ich daran nicht gedacht?«
Das Tenderloin, der Pfuhl, ist das Heimatland der Sünde in TunFaire. Alles ist möglich, keiner stellt Fragen und niemand mischt sich irgendwo ein. Missionare sind nicht erwünscht. Reformer betreten den Pfuhl auf eigenes Risiko. Genauso wie alle anderen auch. Die ganze Bande der Schlange konnte sich da mit Leichtigkeit direkt unter unserer Nase verstecken, obwohl Kain Kontamin alles und jeden dort in der Tasche hatte. Sie mußten nur einfach darauf achten, nicht im Sechserpack herumzulaufen.
Ich hätte wirklich daran denken sollen. Das Tenderloin ist nicht sehr weit vom Fort Winzig entfernt und liegt nur ein paar Blocks hinter dem Aderlaß-Spital. Man hatte mir gesagt, daß die aufrührerischen Zwerge nach dem Kampf mit Gnorsts Leuten in diese Richtung geflohen waren. Käme ich von außerhalb und müßte mich verstecken, wäre das genau der richtige Ort.
Warum also hatte ich nicht daran gedacht, dort ein bißchen herumzuschnüffeln? Ich wurde wohl langsam senil.
Das Tenderloin schläft nie, es arbeitet nur frühmorgens etwas langsamer. Als wir ankamen, löschten die Nachtwächter die Laternen, um Öl zu sparen. Während der Hauptgeschäftszeiten ist das ganze Gebiet hell erleuchtet, wie ein Jahrmarkt, aber das Management verschwendet keine Münze, die nicht zehnfach wieder hereinkommt. Es war die Zeit der Heimlichtuer, in der Licht und Dunkelheit ohne Bedeutung waren.
Das Tenderloin ist wie die Huren, die seine wichtigste Ware sind: Nur Tünche und Make-up auf der Fassade. Hinter den strahlenden Lichtern ist es verrottet und stinkt nach menschlicher Verzweiflung. Das schminken sie nicht einmal da, wo sie es könnten. Wenn man ihnen in die Augen sieht, haben sie einem schon das Geld abgenommen und sind nur noch daran interessiert, einen so schnell wie möglich durchzuschleusen.
Der Wind wurde mit jeder Sekunde schärfer. Vielleicht waren die morCarthas deshalb heute nacht zu Hause geblieben. In ihren angestammten Tälern ist es weit wärmer. Die Nachtwächter hüllten sich fester in ihre lumpigen Mäntel und fluchten leise in ihre Bärte. Die Betreiber der verschiedenen Etablissements behielten durch angelehnte Türen die Straße im Auge und warteten, bis wir ungefähr in ihrer Höhe waren. Dann sprangen sie hervor und erzählten uns von unvorstellbaren Wundern, die uns drinnen erwarteten. Signalisierten wir Desinteresse, zogen sie sich wieder zurück. Keiner übte Druck aus. Alle kannten Beutler.
Ich ließ ihn vorgehen und suchte nach einem guten Grund, warum ich weiterhin nach diesem Buch der Träume suchte. Ich hatte angefangen, mir selbst zu mißtrauen. Ich fürchtete, daß ein Teil von mir das Buch wollte, so wie die Schlange und auch Ostermann es wollten. Wie vielleicht sogar der örtliche Zwergenkönig es wollte.
Diese Idee war mir eben erst gekommen und verdiente eine genauere Betrachtung. Vielleicht erklärte es, warum Gnorst so unkooperativ war. Vielleicht hatte er ja vor, in Nooney Krombachs Fußstapfen zu treten.
Während ich in die Abgründe der Seelen abgetaucht war, hatte sich meine Umgebung ebenfalls dramatisch verändert. Die Straßen leerten sich. Beutler ging langsamer und hielt sich im Schatten.
Irgend etwas mußte gleich passieren.
Beutler hatte ein paar Schritte Vorsprung. Ich trat zur Seite und stieg eine Treppe hinauf, die zu einem alten Gebäude führte. Er bemerkte es nicht. Seine Aufmerksamkeit war nach vorn gerichtet. Ich legte mich flach auf den Treppenabsatz eines zweistöckigen Eingangs.
Normalerweise vertraue ich meinen Instinkten. Und jetzt hatte ich plötzlich eine starke Ahnung, daß es besser für Garrett war, nicht offen in der Gegend herumzustehen, und noch besser, sich vor dunklen Gassen zu hüten. Ich machte mich unsichtbar und versuchte, mit der eiskalten Finsternis eins zu werden, nur noch zu beobachten.
Mein Instinkt war gut. Ich war kaum in Deckung gegangen, als aus jeder Gasse Schläger strömten. Beutler gab Handzeichen. Sie gingen alle auf ein Haus zu, auf das Beutler gezeigt hatte.
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt merkte er, daß ich nicht mehr bei ihm war. Er sah sich verblüfft um, spuckte aus und fluchte. Da wurde mir klar, daß ich so gerade eben noch mal davongekommen war.
Hatte er mich zur Schlachtbank führen wollen?
Jedenfalls war es keine brillante Idee gewesen, mit ihm zu gehen. Ich blieb, wo ich war, stellte mich tot und dachte nach.
Was stimmte mit der Schlange nicht? Man hatte mir gesagt, daß
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