Schattenwandler 05. Noah
hatte ihm das durch Telepathie mitgeteilt, und er wusste, dass er bald am Zug war.
Jetzt, da Damien fort war, stellte Stephan das einzige ernsthafte Risiko in der Festung dar. Der Anführer der Vorhut war mit der Feier im Erdgeschoss der Festung beschäftigt, er wäre in Alarmbereitschaft und würde augenblicklich jeden Eindringling bemerken. Doch Cygnus’ Kameraden hatten ein Ablenkungsmanöver vorbereitet, um Stephan wegzulocken. Dann würden sie angreifen, vollkommen unbemerkt und noch bevor Damien die Wärme seiner Beute wahrnehmen könnte.
»Ich verstehe das nicht!«, schäumte Kestra und rannte hinter Noah her, mit dessen hastigen Riesenschritten sie kaum mithalten konnte.
»Genau das meine ich, Kestra. Du verstehst das einfach nicht. Wenn du die Macht der Wesen kennen würdest, mit denen wir es zu tun bekommen, würdest du nicht einen so wahnsinnigen Vorschlag machen!«
»Bleibst du vielleicht mal stehen und schaust mich an!«, schrie sie ihn an und keuchte leicht, als sie zum dritten Mal über die Treppe in den zweiten Stock und wieder zurückrannten. Obwohl es eher daher kam, dass sie wütend auf ihn war, als dass sie außer Atem gewesen wäre.
Noah tat ihr den Gefallen und blieb mitten auf der Treppe stehen und schaute ihr ins Gesicht, wenn auch nicht direkt in die Augen, den umwölkten Blick von den langen, dichten Wimpern verdeckt. Er zerrte an einer Lederscheide am Handgelenk mit einem kleinen Messer darin, während er ungeduldig darauf wartete, dass sie fortfuhr.
»Danke«, sagte sie widerstrebend, auch wenn sie nicht die volle Aufmerksamkeit bekam. Plötzlich begriff sie, dass Noah seine Gedanken abschirmen konnte, wenn er wollte. Sein Alter, seine Fähigkeiten und seine Erfahrungen mit einer Geistdämonin als Schwester hatten ihm diesen Vorteil ihr gegenüber verschafft. Jetzt konnte sie ihn nicht einmal mehr dazu zwingen, ihr seine wahren Gefühle zu zeigen.
»Noah, ich denke, ich habe deine Gedanken so gründlich gelesen, dass ich genau weiß, womit du nicht einverstanden bist. Ich bin nicht …«
»Gedanken zu lesen und eine bestimmte Vorstellung zu akzeptieren ist nichts gegen das, wenn man den Schlag spürt, wenn man die übernatürlichen Kräfte eines Wesen spürt im Vergleich zu einem menschlichen Wesen, von dem du, vergiss das nicht, immer fünfzig Prozent haben wirst.« Er trat neben sie und blickte ihr endlich in die Augen, sein feuriges Gemüt war eine Wand aus hitzigen Emotionen, die sie auf ihrer Haut und auf ihrem Schädel spüren konnte. »Du kommst nicht mit, Kestra, und das ist mein letztes Wort in dieser Sache.«
Zu ihrer Überraschung und zu ihrer Entrüstung drehte er ihr den Rücken zu und ging weiter die Stufen hinunter.
»Ist das dein letztes Wort?« Mit wutentbranntem Gesicht stürmte sie hinter ihm her. »Ist das etwa ein dämlicher Kreuzzug?«, fragte sie. »Glaubst du, ich sitze einfach hier herum und mache … mache Stickereien oder so etwas, während du Krieg führst, und bete, dass man dir deinen arroganten Dickschädel nicht spaltet?«
Sie kam schlitternd zum Stehen, als er zu ihr herumfuhr.
»Wage es ja nicht, in einem solchen Ton mit mir zu reden«, schrie er ihr ins Gesicht, und sein heftiger Gefühlsausbruch zeigte sich in einem heißen Luftschwall, der ihr Haar und ihr Kleid zum Flattern brachte. »Es gibt keine Frau in meinem Volk, die es wagen würde, so etwas zu sagen! Wie soll ich bitte glauben, dass du auch nur die leiseste Ahnung hast, mit welchen Feinden wir es zu tun bekommen, wenn du nicht einmal die Persönlichkeit deines Seelenverwandten verstehst?«
»Ach, ich weiß nicht«, schnaubte sie sarkastisch, die Hände in die Hüften gestemmt und den Kopf schräg gelegt, »vielleicht … mmh … vielleicht liegt es ja daran, dass ich erst seit drei Tagen in deiner großartigen Gesellschaft bin. Und von diesen drei Tagen hatte ich nur einen Tag lang Zugang zu deinem Dickschädel. Du hörst mir ja überhaupt nicht zu!«
»Ich habe dir zugehört, Kestra. Deine Vorschläge und dein Scharfsinn heute Abend waren von unschätzbarem Wert, und ich danke dir von Herzen dafür.« Immerhin sagte er das mit aller Aufrichtigkeit, doch es änderte nichts an seinem störrischen Gesichtsausdruck. »Aber du kommst nicht mit, um gegen machtbesessene Vampire zu kämpfen. Du kannst dich weder verteidigen noch angreifen und wärst nur eine Art Blutkonserve auf zwei Beinen. Ich werde nicht zusehen, wie man dir die Kehle aufreißt, und ich will mich auch nicht im Blut
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