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Schief gewickelt (German Edition)

Schief gewickelt (German Edition)

Titel: Schief gewickelt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Sachau
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den größten Fehler meines Lebens. Ob ich ihm lieber sagen soll, dass ich den Schlüssel nicht mehr finde? Aber wer weiß, wie er reagieren wird. Ein Mörder, der in die Enge getrieben wird, ist gefährlich wie ein angeschossener Elefant. Womöglich wird er Daniel als Geisel nehmen.
    O Gott. Ich höre Schritte hinter mir.
    Er ist mir gefolgt.
    Ich drehe mich langsam um.
    Ein Blick reicht, um zu sehen, dass ich jetzt wirklich ein Riesenproblem habe. Es hat aber nichts mit Mord und Totschlag zu tun. Herr Baumer fixiert den Fernseher. Auf dem Bildschirm räkelt sich die nackte Tänzerin auf ihrem grünen Kunstrasen und gibt jedermann Gelegenheit, ihre Schamhaare zu zählen. Und Daniel guckt gebannt zu. Und Herr Baumer guckt zu, wie Daniel gebannt zuguckt.
    Ich brauche mir keine Illusionen zu machen. Ich weiß, wie das aussieht. Ich kann nur noch krächzen.
    »Äh, das ist …«
    »Strawinsky. Ich weiß. Le Sacre du Printemps . Großartige Musik.«
    Wie bitte?
    »Oh … ja sicher, großartige Musik.«
    »Entschuldige bitte, dass ich hier einfach ungebeten in euer Wohnzimmer platze, Markus, aber dieser Klang rührt immer den Grund meines Herzens an.«
    »Nun ja, kein Problem, L…udger.«
    »Eine seiner Sternstunden. Dieser Mut. Hör nur.«
    UMPTA ! … UMPATUMPTA ! … UMPTA IHH IHH IHH ! … IHH IHH IHH ! … IHH IHH IHH ! … UMPATUMPTA ! … IHHHHHHHH !
    »Ja, doch, schon ein gewaltiger Mut. Hmhm.«
    Puh, vor ein paar Sekunden hätte ich noch gedacht, der zeigt mich sofort beim Jugendamt an. Ich bin erleichtert und plaudere weltgewandt drauflos.
    »Übrigens, die Feuervogelsuite , die finde ich ja auch sehr beachtlich.«
    Herr Baumer wendet seinen Blick wieder vom Fernseher ab und sieht mich an. Er kneift die Augenbrauen zusammen. Weia, hätte ich doch lieber den Mund gehalten. Vielleicht hat mich Tante Hilda nur veräppelt und die Feuervogelsuite gibt es gar nicht.
    »Die Feuervogelsuite ?«
    Er redet mit einer Stimme, vor der selbst Herbert Wehner den Schwanz eingezogen hätte.
    »Nun, die Feuervogelsuite findet selbst meine Großmutter beachtlich. Aber das hier, Markus, Le Sacre du Printemps «, er beschreibt einen gewaltigen Bogen mit seiner rechten Hand, »das hält keiner aus, der eine hässliche Kleinbürgerseele hat.«
    Ich kann es nicht fassen. Herr Baumer, mein Herr Baumer, der Mann, der in türkisfarbenen Jogginganzügen unter die Menschen geht und den Begriff Nachbarneid völlig neu definiert hat, liebt Strawinsky und schimpft über hässliche Kleinbürgerseelen. Was kommt als Nächstes?
    Ich muss nicht lange warten. Sein Blick streift den Wurlitzer. Wie von einem Magnet angezogen, geht er darauf zu. Noch gestern hätte ich geschworen, dass er mir, sobald er meinen geliebten alten Tastenkasten zum ersten Mal sieht, stolz auseinandersetzen wird, dass er ein modernes Casio Keyboard mit 3000 Tüdelklängen und Schrummtata-Automatik besitzt. Aber die alten Regeln gelten heute nicht mehr.
    »Aber das ist ja ein … Markus, du hast ein …«
    Schon sitzt er auf dem Hocker.
    »Entschuldigung, darf ich …«
    Noch während er die Frage in seinen Bart nuschelt, langt er schon zu. Er scheint in einer anderen Welt zu schweben.
    Ein Wurlitzer E-Piano ist keine komplizierte technische Angelegenheit. Ein Lautstärkeregler und ein Vibratoregler, das wars. Trotzdem scheitern die meisten schon daran, es überhaupt einzuschalten, weil man erst draufkommen muss, dass man einfach nur den Lautstärkeregler drehen muss, wie bei einem alten Autoradio. Herr Baumer scheint aber sein halbes Leben nichts anderes gemacht zu haben, als Wurlitzer E-Pianos einzuschalten. Und nicht nur das.
    Es gibt diese Art von Pianisten, die schlagen kurz zwei Akkorde an, und schon ist New York im Raum. Ich selbst habe das nie gekonnt. Herr Baumer schon. Ich mache wie in Trance den Strawinsky leiser, nehme Daniel auf den Arm und höre zu. Wie er so versunken dasitzt und spielt. Eine Mischung aus Stevie Wonder und Glenn Gould. Ich verstehe die Welt nicht mehr.
    *
    Eine halbe Stunde später weiß ich alles. Herr Baumer hat Musik studiert. Er war Spezialist für exotische elektronische Instrumente. Trautonium, Theremin, lauter seltsame Namen, die mir nichts sagen. Leider wurden die Stücke, in denen diese Instrumente vorkommen, so selten aufgeführt, dass er sich finanziell gerade so über Wasser halten konnte. Dummerweise hatte er sich ausgerechnet in eine verschwendungssüchtige Frau verliebt. Um zusätzlich Geld zu verdienen, hat er als

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