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Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Titel: Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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mir herübergesehen und dann beinahe krampfhaft den Blick abgewandt. Das war eine ganz natürliche Reaktion ihrerseits, wenn man bedenkt, wie unverfroren ich sie anstarrte.
    In diesem Moment schien mir die Ähnlichkeit frappierend. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich im Geiste nicht mehr die Phantombilder vor mir, die nach meinen Beschreibungen angefertigt worden waren, sondern die Männer selbst. Ich sah sie über mir stehen, spürte den Tritt in die Seite und das Ziehen an meinen Haaren. Ich sah die schwarze Mündung des Revolvers. Sah das im eigenen Blut gebadete Gesicht des Opfers. Hörte die Schüsse. Dann die Stimme.
    Einer der beiden Männer sagte etwas zu dem anderen, und es klang wie „Da drüben sitzt sie.“ Später erkannte ich den Wiederspruch. Warum sollte er in ihr auf Serbokroatisch geführtes Gespräch plötzlich einen deutschen Satz einbauen? Wenn er etwas Derartiges von sich gab, dann würde er es in seiner eigenen Sprache sagen.
    In den Sekunden, die ich sie anstarrte, schien es mir nicht nur plausibel, sondern Beweis genug für meine furchtbare Vermutung.
    Ich bemerkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Wie meine Hände die Serviette fallen ließen und sich in die Tischdecke krallten. Der Junge an meinem Tisch reagierte auf meine Veränderung, indem er meinem Blick folgte. Die Männer sahen zu uns herüber. Ja, sie hatten allen Grund, verärgert zu sein, wenn sie von wildfremden Leuten angestarrt wurden. Aber diese Kälte in ihren Blicken, dieser gut kontrollierte Hass, die Formen, die ihre Augenbrauen annahmen, das Muster, das ihre Falten zusammen mit ihren Mündern, ihren Augen, ihren harten, breiten Kinnpartien bildeten … das war dasselbe Muster, das unauslöschlich in meine Erinnerung eingebrannt war.
    Es schmerzte, sie anzusehen. Doch ich konnte den Blick nicht von ihnen nehmen. Ich fühlte, dass ich blond war. Ja, ich spürte mein Blondsein nach all der Zeit als Schwarzhaarige auf eine verrückte, körperliche Weise. Ich spürte die Nacktheit meines Gesichts, das Fehlen meiner Brille, meiner Tarnung. Ich schämte mich, wie sich eine Stripperin schämen mochte für die Blöße, die sie sich jeden Abend gab. Und ich hasste diese Männer, weil sie so cool blieben, so ungeheuer professionell, wie es nur Berufskiller sein konnten.
    Einer von ihnen griff an seine Hüfte, und seine Hand verschwand dort, verdeckt von der Tischplatte.
    „Lauf“, wisperte ich, ohne meine Haltung zu verändern. „Lauf. Sie werden mich töten. Vielleicht kannst du entkommen.“
    „Dorothea, was …?“
    Ich schloss die Augen, verkrampfte mich, hörte, wie Geschirr klirrte. Ich hatte wohl das Tischtuch herabgerissen, mit den Gläsern und den Desserttellern.
    Ich bin es nicht, sagte ich beschwörend zu mir und zur ganzen Welt. Ich bin es nicht. Ich bin nicht die, nach der ich aussehe. Ich bin niemand. Niemand. Ich ähnle mir nicht. Ich habe kein Gesicht, keine besonderen Kennzeichen. Es gibt nichts, woran man mich erkennen könnte. Ich bin wie eine nicht identifizierbare Leiche, nur dass ich nicht tot bin.
    Jemand packte mich an den Schultern. Ich riss mich los.
    Da ist niemand, sagte ich im Inneren zu dem Menschen, der mich berührt hatte. Nur eine Frau, eine Irre. Du kennst sie nicht, hast nie ein Wort mit ihr gesprochen. Sie hat keinen Namen, kein Zuhause, keine Identität, keine Vergangenheit. Sie ist nur Gegenwart, weil sie keine Spuren hinterlässt, wenn sie sich durch die Zeit bewegt. Sie macht Unannehmlichkeiten, weil sie sich seltsam benimmt, aber sie hat keinen Grund dazu, kein Motiv und keine Geschichte. Sie ist nicht wie ein Roman, in dem alles einen Sinn ergibt, sondern wie ein spontanes Gedicht, das alles bedeuten könnte. Alles an ihr ist beliebig, zufällig, unbestimmt.
    Um mich herum wurde es lauter. Menschen riefen etwas. Standen auf. Schritte eilten herbei, Stühle wurden gerückt. Noch immer hielt ich meine Augen geschlossen, die Lider zusammengepresst, als hinge mein Leben davon ab, dass ich die Welt nicht ansah.
    Ich bin nur eine Frau, sagte ich. Nur eine unsichtbare Frau.
    Wenn ich die Augen schloss und nichts mehr wahrnahm, bildete ich mir ein, auch selbst nicht mehr zu sehen zu sein.
    Irgendetwas in meinem Innern explodierte. Eine Ader vielleicht. Ich sackte zur Seite weg. Jemand entschuldigte sich bei den Gästen für die Störung. Jemand rief nach einem Arzt. Niemand hatte auf mich geschossen, oder? Ich hatte keinen Knall gehört. War ich ihnen entkommen? Ich fühlte, wie sich

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