Schnee in Venedig
dein Freund Sivry.» Die Contessa warf einen Blick auf die Repetieruhr, die auf Trons Nachttisch lag.
«Du bekommst übrigens gleich Besuch.»
«Wer kommt denn?»
Die Contessa lächelte. «Die Principessa di Montalcino. Sie kommt jeden Tag zweimal. Morgens um zehn und nachmittags um vier.»
«Sie kommt
zweimal
am Tag?»
Die Contessa nickte. «Ja. Und sie bleibt jedes Mal ziemlich lange. Alessandro ist immer völlig aus dem Häuschen, wenn die Principessa hier ist. Er schwärmt regelrecht für sie. Gestern hat er vor lauter Aufregung von der falschen Seite serviert. Kannst du dir das vorstellen? Alessandro? Wie er von der falschen Seite Braten nachlegt?»
«Wie? War die Principessa zum Essen da?»
«Gestern und vorgestern. Und dann redet sie mit Alessandro so, als würde er zur Familie gehören.»
«Alessandro gehört zur Familie. Du redest doch auch so mit ihm.»
«Ja, aber nicht, wenn er serviert und wir Gäste haben. Aber vielleicht bin ich da etwas altmodisch. Die Principessa verwickelt ihn während des Servierens in regelrechte Gespräche. Fehlt gerade noch, dass sie Alessandro auffordert, Platz zu nehmen.»
«Das gefällt mir.»
«Alessandro gefällt es auch. Wenn sie wieder weg ist, kann er gar nicht aufhören, über sie zu reden. Die Principessahier! Die Principessa da! Und dabei glänzen seine Augen. So kenne ich ihn gar nicht.» Die Contessa schüttelte den Kopf. «Liebe Güte, dieser Mann ist bald siebzig!»
«Wie spät ist es?»
«Halb vier.»
«Um Himmels willen! Dann kommt die Principessa gleich! Gib mir einen Spiegel! Und meinen Kneifer!»
Zuerst hatte Tron Schwierigkeiten, in dem bärtigen Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, eine Ähnlichkeit mit sich selber festzustellen. Seine Nase war groß und spitz, seine Wangen eingefallen und die Gesichtsfarbe überwiegend grau, während seine Stirn ein Experiment mit Regenbogenfarben angestellt zu haben schien; ihre Farbe wechselte von Blau zu Grün und von Grün zu Gelb und war mit kleinen rötlichen Beulen überzogen. Offenbar war er bei einem seiner zahlreichen Stürze mehrmals mit der Stirn aufgeschlagen. Tron fand, er sah aus wie ein gealterter Pinocchio, der gerade in den Malkasten gefallen war.
Aber zugleich lag in seinem Blick etwas, das ihm gefiel. Zwar war sein linkes Auge immer noch ein wenig zugeschwollen, und der Verband auf seiner Augenbraue gereichte seinem Gesicht nicht unbedingt zum Vorteil, aber das änderte nichts am
Ausdruck
der Augen, die ihm aus dem Spiegel entgegenblickten. Es lag eine Art heiterer Entschlossenheit in diesen Augen, eine absurde Zuversicht, die ihn angesichts seines Zustandes erstaunte.
Er gab der Contessa den Spiegel zurück und ließ sich wieder in sein Kissen sinken. Das Hochhalten des Spiegels hatte ihn erschöpft. Er stellte fest, dass er immer noch nicht tief durchatmen konnte, ohne dass seine Rippen schmerzten.
«Liegt der Schnee noch?»
Die Contessa schüttelte den Kopf. «Nein. Der Schnee ist seit zwei Tagen weg. Es ist erheblich wärmer geworden. Deshalb hat Alessandro auch das Fenster aufgelassen.»
Tron drehte den Kopf nach rechts und sah, dass die beiden Fensterflügel weit geöffnet waren. Der Himmel dahinter war blau, mit einem ganz schwachen Wirbel dünner Bewölkung, wie ein abgewischter Tisch in den letzten Sekunden vor dem Trocknen der Feuchtigkeit.
60
Als die Principessa eine halbe Stunde später Trons Zimmer betritt, steht das Fenster immer noch weit offen. Inzwischen haben sich ein paar Wolken über den Himmelsausschnitt geschoben, keine dräuenden Schneewolken, sondern heitere Vorfrühlingswolken, die wie Zuckerwatte über den Himmel treiben. Aber Tron sieht weder die Wölkchen noch den Himmel. Seine Augen sind geschlossen. Wenn er der Principessa gewisse Dinge sagen möchte, das fühlt er, dann muss er sie
jetzt
sagen, solange sie noch unter dem Eindruck seiner Heldentaten steht. Andererseits, sagt sich Tron, so wie er aussieht, in seinem zerschlissenen Nachthemd, unrasiert, mit dem Verband über dem linken Auge und den Regenbogenfarben auf der Stirn – wie kann er da die richtigen Worte finden?
Das alles verwirrt ihn, und so lässt er seine Augen bis auf einen schmalen Schlitz geschlossen und beschränkt sich darauf, dem Klopfen des eigenen Herzens zu lauschen, das Bergamotte-Parfum der Principessa zu riechen und ihren Schattenriss zu beobachten.
Die Principessa hat das Zimmer mit eiligen Schrittendurchquert und das Fenster geschlossen. Jetzt nimmt sie das
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