Schneewittchens Tod
ganze Zirkus ist bald vorbei«, rief Belle-Mamie aus dem Wintergarten herüber, wo sie mit Eunice und Annabelle bei Tisch saß.
»Ich will in den Zirkus!«, schrie Eunice und klatschte in die Hände.
»Das ist nur eine Redensart, mein Liebling. Iss deine Kekse«, befahl ihre Großmutter, als Chib und Gaelle das Haus verließen.
»Ich will boxen«, meinte Annabelle und zappelte auf ihrem Hocker.
»Trink deinen Kakao aus und rede keinen Unsinn.«
»Das ist kein Unsinn, ich will Boxerin werden und sie alle platt machen!«
»Annabelle, bitte!«
»Bis morgen.«
Dubois schloss die Tür, und sie konnten die Fortsetzung des Gesprächs nicht mehr hören.
»Eine Dusche, ein Steak mit Pommes und einen doppelten Whisky, schnell, Chauffeur!«
Chib nickte und ließ sich erschöpft in den Floride sinken. Er hatte keine Lust, in dieser morbiden Atmosphäre zu bleiben, aber er hatte auch keine Lust, sich von Blanche zu entfernen. Er hatte zu nichts von all dem Lust, was sich ereignete. Er hatte Lust, etwas anderes als diese Realität zu leben. Er fühlte sich frustriert, genervt und verängstigt. Dazu kamen die ersten Anzeichen einer Stirnhöhleninfektion und heftiges Sodbrennen.
»Kann ich bei dir schlafen?«, fragte Gaelle und schaltete den CD-Player ein.
»Schlafen, ja«, entgegnete Chib, während Cab Colloway Hard Times anstimmte.
INTERMEZZO 4
Meine Zeit
ist gekommen
eisiger Hauch
Die Hände gefesselt
wohlige Wunde
Ihre geschlossenen Augen
ich öffne sie
Ihr stummer Mund
ich bezwinge ihn
Ihr nackter Leib
ich breche ihn auf
wie ein Dieb
Todesdieb
Sie haben Angst
Endlich
Sie verstehen nun
dass auch ihre Zeit gekommen ist
Die Zeit der Züchtigung
die süße Zeit der Schmerzen
KAPITEL 12
»Hallo! Was treibst du? Sag bloß, du bist schon wieder mit einer Frau im Bett! Du bist ja schlimmer als ein australisches Karnickel!«
Gregs Stimme plärrte aus dem Telefonlautsprecher.
»Ist Gaelle bei dir? Huhu, Gaelle, nun streck doch mal den Kopf unter der Decke hervor!«
»Sie ist weg, sie musste in die Uni«, brummte Chib und legte die Nadel beiseite, mit der er soeben den letzten Stich an Scotty gemacht hatte. »Und wenn ich nun mit jemand anderem zusammen gewesen wäre?«
»Du hast doch nicht mehr als eine Frau pro Jahr!«, spottete Greg.
Da irrst du dich, mein Lieber. Der neue Chib ist ein wahrer Herzensbrecher.
»Aicha hat mir erzählt, was los ist«, fuhr Greg fort. »Total verrückt, eure Geschichte.«
»Du sagst es.«
»Weißt du, was ich denke?«
»Du weißt doch, dass Denken nicht gut für dich ist!«
»Hör auf mit dem Blödsinn, weißt du, was ich denke? Ich glaube, der Vater war es, mit seinem Wall-Street-Outfit, du weißt schon, wie der Typ, der in Hollywood Night die Nutten umlegt. Der am wenigsten verdächtigt wird, ist am Ende immer der Schuldige.«
»Greg, wir sprechen hier von echten Menschen. Von einem richtigen Mädchen.«
»Und es ist echt tot, dein echtes Mädchen. Und sie ist auch nicht selbst aus ihrer Konservendose rausgekommen, um mit Bambi im Wald spazieren zu gehen. Ich sage dir ja, er war es, er hat sie vergewaltigt und umgebracht, und das macht ihn jetzt wahnsinnig.«
»Entschuldige, ich bekomme noch einen anderen Anruf, das sind sie vielleicht.«
»Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, ich habe Instinkt.«
Chib legte auf und griff nach seinem Handy, das auf dem niedrigen Tisch lag.
»Guten Tag, ich rufe wegen Scotty an.«
Noemie Labarriere.
»Ich bin fertig«, sagte er und strich über den Kopf des Terriers. »Ich kann ihn vorbeibringen, wann Sie wollen.«
»Wunderbar! Sagen wir in einer Stunde?«
Er warf einen Blick auf seine Uhr: 10 Uhr 45.
»Sehr gut, bis gleich.«
Während er sich anzog, hörte er seinen Anrufbeantworter ab. Keine Anrufe. Offenbar hatten die Andrieus beschlossen, auf seine Dienste zu verzichten. Das führte zu folgender schmerzhaften Frage: Unter welchem Vorwand konnte er Blanche wiedersehen? Er könnte immerhin anrufen, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Eine solche Nachfrage wäre völlig normal unter den gegebenen Umständen. Ja, er würde einige Zeit warten, und dann würde er anrufen, sagte er sich gähnend. Er war um sechs Uhr aufgestanden, um Scotty fertig zu machen, ihn mit Kunstharz auszugießen und ihm das behandelte Fell wieder überzuziehen. Jetzt brannten seine Augen, wegen der Müdigkeit und der giftigen Chemikalien. Ein kleiner Spaziergang würde ihm gut tun.
Noemie Labarriere lag auf einem olivgrünen Liegestuhl
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