Schockstarre
Weigand wirkte wie ein vom täglichen Frust noch unverdorbener Lehrer, der sich über die Zwischenfrage einer besonders intelligenten Schülerin freute. »Hier, sehen Sie sich den Arm an. Nur ein Kratzer, eine längsovale Verletzung. Nichts Dramatisches! Verstehen Sie, der Mann wurde angeschossen, aus weiter Entfernung.«
»Ich vermute«, unterbrach Schilling, »dass dieser Schuss schon tödlich hätte sein sollen, dass der Mörder aber einfach nicht getroffen hat. Er stand zu weit weg, wie wir an den Spuren im Schnee sehen können. Mehr als fünfzig Meter.«
»Ja, ja«, nahm Dr. Weigand den Faden wieder auf. »Das Opfer war schockiert, hielt sich den Arm, musste erst verstehen, was mit ihm passiert war. Währenddessen kam der Mörder aus der Deckung …«
»… trat nahe an das Opfer heran und feuerte den zweiten Schuss ab.« Schilling schaltete sich dazwischen, als habe er Angst, nicht mehr an die Reihe zu kommen.
»Er hat aus circa dreißig Zentimetern Entfernung auf das Opfer gezielt und es auch getroffen. Dann ist es ja keine Kunst mehr«, bestätigte Weigand.
»Eine Frage«, sagte Katinka schnell. »Hat der Täter das Magazin aus der Waffe genommen, bevor er sie weggeworfen hat?«
»Nein«, erwiderte Schilling. »Zwei Schuss fehlen. Das Magazin ist drin.«
Katinka nickte. Das beruhigte sie immerhin.
»Ah, ich verstehe«, kam es von Weigand. »Sie meinen, der Mörder könnte noch andere Leute auf dem Gewissen haben? Tote, von denen wir nichts wissen?«
»Zum Beispiel«, murmelte Katinka.
Sie bedankte sich bei Dr. Weigand und verließ den Seziersaal.
»Frau Palfy!« Schilling kam flott hinter ihr her. Seine Absätze markierten ein entschlossenes Stakkato, das Klacken hallte von den gekachelten Wänden wider. »Warten Sie mal!«
Sie drehte sich um und versuchte es mit einem Lächeln. Tatsächlich hatte Hardo seinen Kollegen passend beschrieben. Schilling war aufs eleganteste gekleidet, mit einem in schokoladenbraunen Tönen changierenden Wollmantel, schicken Lederschuhen in der gleichen Farbe und einem Anzug inklusive Weste in Rauchblau, aufgepeppt durch eine altrosa schimmernde Krawatte. Katinka dachte kurz an Kommissar Uttenreuthers ewigen Jeans und karierten Holzfällerhemden. Und an diesen blödsinnigen und unnötigen Streit.
»Es wäre gut, wenn sie nochmal zu uns ins Büro kommen.«
»Das wollte ich auch gerade vorschlagen«, sagte Ka-tinka. »Ich kenne mich bloß nicht aus. Am besten fahre ich Ihnen nach.«
Mittlerweile waren die Temperaturen gestiegen. Der Schneematsch verwandelte sich in braune Pampe, feine Regentropfen sprühten aus den grauen, tiefhängenden Wolken wie aus einem defekten Duschkopf.
Katinka stieg in ihr Auto und wartete, bis Schilling sich vor ihr in den Verkehr einordnete und seinen Peugeot die Muskeln spielen ließ. Es war mittlerweile nach eins, sie hatte nicht gefrühstückt. Ihr Magen knurrte. Sie folgte Schilling auf den Parkplatz hinter dem majestätischen, rotbraunen Gebäude der Polizeidirektion.
Schillings Büro glänzte vor Sauberkeit und war aufgeräumt wie ein zum Einzug bereites Hotelzimmer.
»Frau Palfy«, sagte Schilling, half ihr galant aus dem Mantel und hängte ihn neben seinen in den Spind in der Ecke. »Um noch einmal auf Ihre Anfrage zurückzukommen. Wir ziehen keine Außenstehenden zu den Ermittlungen hinzu.«
»Das habe ich befürchtet«, nickte Katinka.
»Kaffee?« Schilling setzte eine Espressomaschine in Betrieb, grüne und rote Kontrollleuchten flackerten auf. Ein leises Summen erklang, das Hightechorchester stimmte die Instrumente. »Mit Milch? Ohne? Café Crème? Cappuccino? Zucker oder lieber Süßstoff?«
»Sie haben ja eine richtige Kaffeebar hier!«
»Nicht wirklich.«
Das ist auch so ein neuer Ausdruck, dachte Katinka. Statt nein sagt man nicht wirklich . »Cappuccino, ohne Zucker bitte.«
»Sehen Sie«, begann Schilling, während er konzentriert mit dem ausgestreckten Mittelfinger auf ein paar Tasten tippte, »die amtlichen Wege müssen wir einhalten. Obwohl mich Ihre Fachkenntnis positiv stimmt, muss ich sagen.«
Im Innern der Maschine knackte es. Katinka überlegte kurz, wen er erwartet hatte, nachdem sie sich am Morgen telefonisch bei ihm gemeldet hatte. Eine schwarzweiß gefleckte Kuh vermutlich.
»Ich kann Ihre Gründe nachvollziehen«, sagte sie. »Immerhin haben Sie Ihre Vorschriften einzuhalten.«
»Exakt«, bekräftigte Schilling zufrieden, während das Kaffeeraumschiff schwarze Flüssigkeit in eine Ritzenhofftasse
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