Schön scheußlich
beginnt irgendwann in der ersten Woche nach der Empfängnis. Dass sie den gesamten Entwurf so rasch in die Tat umsetzen können, liegt unter anderem darin begründet, dass der Embryo aus einer Reihe sich wiederholender Segmente besteht. Jeder Körperabschnitt ist in wesentlichen Teilen eine Kopie des vorhergehenden, und jedem Segment werden anschließend nach und nach zusätzliche Varianten eingebaut, die sich schließlich zur Komplexität des fertigen Körpers addieren. Mit anderen Worten: Das Wachstum eines Babys ähnelt ein bisschen dem Schließen einer Jalousie, die man Lamelle für Lamelle herunterlässt. Diese abschnittsweise Untergliederung unseres Bauplans lässt sich am deutlichsten an unserer Wirbelsäule und unseren Rippen erkennen, doch auch andere Körperteile weisen eine Art von Modulbauweise auf. Aus evolutionärer Sicht ergibt dieses Schema sehr viel Sinn, denn es ermöglicht der Natur, mit einer Einheit - dem embryonalen Grundsegment - zu beginnen und dieses dann von Kopf bis Fuß immer wieder zu duplizieren und zu modifizieren, statt für jedes Organ von Grund auf nach einem neuen Plan beginnen zu müssen. Die Hox-Gene sorgen dafür, dass die entsprechenden Module mit fortschreitender Embryonalentwicklung ordnungsgemäß erscheinen.
Ein weiterer faszinierender Faktor der Hox-Gene ist ihre Struktur, ihre verblüffend präzise Anordnung auf den Chromosomen. Das Geheimnis, wie die verschiedenen Hox-Gene im Verlauf des embryonalen Wachstums in Aktion treten, wird derzeit erst gelüftet, aber die Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die Gene miteinander kollaborieren und mit fortlaufender Entwicklung eines nach dem anderen anspringen und dass sie in manchen Fällen auch in Teams zusammenarbeiten, um die richtige Musterbildung in einem bestimmten Körperteil zu gewährleisten. Derartig stillschweigendes genetisches Einverständnis ist durchaus nicht ungewöhnlich, und viele Aufgaben des Lebens erfordern den gleichzeitigen oder aufeinander abgestimmten Einsatz mehrerer Gene. So werden beispielsweise vier verschiedene Gene benötigt, um ein einzelnes funktionsfähiges Proteingerüst des Sauerstoff transportierenden Hämoglobins anzufertigen. Doch während die Gene für die verschiedenen Hämoglobin-Bestandteile hier und dort auf den Chromosomen verteilt sind und nach Bedarf angeschaltet werden, ohne dass sie einer bestimmten architektonischen Organisation gehorchen müssten, sind die achtunddreißig Hox-Gene der Säugetiere auf vier verschiedenen Chromosomen zu vier dichten Clustern gruppiert. In jeder dieser Gruppen sind die Gene sämtlich in exakt übereinstimmender Ausrichtung und mit stets demselben Abstand eins hinter dem anderen aufgereiht, als hätte ein Konstrukteur den Plan am Reißbrett mit dem Lineal gezeichnet.
Nirgendwo sonst bei den hunderttausend Genen in menschlicher DNS haben Wissenschaftler eine so exakte Anordnung gefunden, und die Biologen sind der Ansicht, dass diese einzigartige Anordnung kein Zufall ist. In einem kühnen Erklärungsversuch von großer ästhetischer Anziehungskraft, doch mit wenig Indizien zu seiner Untermauerung haben französische Wissenschaftler die Vermutung geäußert, dass die dreidimensionale Anordnung der Hox-Gene als eingebautes Uhrwerk wirkt, das im Verlauf der Entwicklung die Augenblicke zählt, indem es Länge und Bestandteile der Doppelhelix als Zeitmesser verwendet.
Dieser Theorie zufolge wird ein Hox-Gen angeschaltet und produziert einen Transkriptionsfaktor, der seinerseits viele andere Gene zum Leben erweckt, die dann das oberste Körpersegment entstehen lassen. Anschließend tritt das nächste Hox-Gen in der Reihe in Aktion und macht es möglich, dass der nächste Körperabschnitt des Embryos gebildet wird, und immer so weiter nach einem fest gefügten Zeitplan. Führt man diese Vorstellung logisch zu Ende, kann man sagen, dass die Hox-Gene die vollständige menschliche Gestalt in sich tragen: Die Chromosomen enthalten eine physikalische und zeitliche Repräsentation der Körperachse beziehungsweise des Kindes - eine Vorstellung von verführerischem künstlerischem und philosophischem Hintersinn. Sie bringt uns zurück zu jener mittelalterlichen Vorstellung von einem Homunkulus, einem winzigen, in jeder Spermienzelle vorhandenen menschlichen Wesen, das einzig die nährende Umgebung eines Mutterleibs benötigt, um heranwachsen zu können. In vielen bildlichen Darstellungen der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel, des Augenblicks also, in dem
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