Schokoherz
die Unterhaltung ausgesprochen giftig gewesen. Schlimmer war jedoch, dass ich keine Zeit mehr hatte, um in den nächsten Laden zu rennen und meine Zähne in ein Stück Schokolade zu versenken. Welche Größe, Marke und Sorte, das war mir alles schon egal. Ich hätte sogar einen Schokoriegel von Nestle genommen. Doch nachdem ich nochmals auf die Uhr gesehen hatte, wusste ich, dass ich das nicht riskieren durfte. Obwohl mich Jane Champion wahrscheinlich – so gut wie sicher – warten lassen würde, durfte das umgekehrt auf keinen Fall passieren. Ich hatte pünktlich dort zu sein, sonst würde die Pressestelle die Gelegenheit nutzen und den Termin ganz absagen. Und ich konnte mir schon ausmalen, wie dasDenise gefallen würde. Dieses Interview war meine Chance, um von ihr wieder in Gnaden aufgenommen zu werden und ihre penetrante Tochter auf ihren Platz zu verweisen. Ich konnte es mir einfach nicht leisten, das Ganze zu vermasseln.
So nahm ich Haltung an, versuchte meinen armen knurrenden Magen zu ignorieren und trat durch die doppelten Türen in die riesige Marmorhalle. Ich würde mein Bestes geben. Das Problem war nur, wie sollte ich ohne einen Bissen Schokolade in Hochform kommen? Seit meinem Frühstücksbrownie in der U-Bahn (so viele Nüsse – hervorragend fürs Gehirn!) hatte ich keinen Krümel Schokolade mehr zu mir genommen. Wer wusste schon, wie tief mein Blutzuckerspiegel bereits gefallen war? Ich konnte jederzeit ohnmächtig zu Boden sinken. Und mir war eindeutig schon etwas schwindlig. Aber ich wusste, dass ich das jetzt durchziehen musste. Wie ein alter Hase bahnte ich mir meinen Weg durch die Menschenmassen, die ziellos herumschlenderten und an den Marmorsäulen hochblickten. Das war ein alter Architektentrick: Mach alles möglichst groß, dann fühlen sich die Leute in Regierungsgebäuden so bedeutungslos wie Ameisen. Also, auf mich machte das jedenfalls keinen Eindruck, ebenso wenig wie der leere Blick der Empfangsdame, deren Make-up-Schicht so dick war wie die einer Geisha. Endlich konnte ich ihr begreiflich machen, dass ich zu Jane Champion musste, und wir begannen mit dem langwierigen Sicherheitscheck. Sobald sie geklärt hatte, dass ich für niemanden außer möglicherweise für Gemma Crampton eine Bedrohung darstellte, wurde ich von einer Pressetante in Empfang genommen. Diese entsprach so gar nicht der konven tionellenVorstellung: Sie war erst knapp über zwanzig und hatte ihre Haare zu kleinen Zöpfchen geflochten, die mit winzigen glitzernden Perlen geschmückt waren und fröhlich klirrten, als sie mich über ein schimmerndes Meer aus Marmor führte.
»Fühlt sich an wie ein Windspiel, oder?« Ich deutete auf ihre Frisur.
»Yeah, einfach cool.« Sie lächelte mir zu. Blitzartig traf ich eine Entscheidung. Im ganzen Innenministerium würde ich wohl niemanden finden, der menschlicher war als dieses Mädchen. Bestimmt konnte ich auf ihr Mitgefühl bauen und sie um ein Stück Schokolade bitten. Nichts Besonderes, nur ein Stückchen oder zwei, damit ich mich besser konzentrieren konnte ...
Als wir vor den Aufzügen warteten, wandte ich mich hastig an sie: »Sie dürfen mir gerne sagen, wenn meine Frage total unpassend ist. Aber könnten Sie mir vielleicht ...« Da öffneten sich plötzlich die Aufzugstüren mit einem zischenden Geräusch, das verblüffend nach Star Trek klang (die alte Staffel, mit dem süßen Captain Kirk in seinem engen senfgelben Oberteil). Heraus trat Jane Champion, eingerahmt von zwei Assistenten. Verdutzt blieben wir alle stehen. Die professionelle Politikerin reagierte als Erste. »Ah, Sie sind Belinda, nicht wahr? Wir sind uns schon einmal begegnet. Und wir haben in ein paar Minuten einen Termin!«
Ihre Begleiter begannen hektisch in ihren Unterlagen zu wühlen. Diese zufällige Begegnung hatte sie total aus dem Konzept gebracht.
»Ganz richtig, Frau Ministerin. Bella Richardson von den Daily News«, sagte ich mit einem beschwichtigenden Lächeln. Sie sollte sich in der Sicherheit wähnen, dassich nur ein 08/15-Interview zum Thema »überfüllte Gefängnisse« plante. Insgeheim fluchte ich, weil ich nun die Chance verpasst hatte, meine neue Freundin um Schokolade anzupumpen.
»Sehr schön. Nachdem wir schon alle hier sind, können wir auch gleich zusammen in den Konferenzraum gehen«, schlug Champion vor. Ich lächelte zustimmend, und wir betraten alle den Lift, wo wir ein paar Augenblicke in verlegenem Schweigen erstarrten. Ich betete, dass mein Magen nicht allzu
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