Schreckensbleich
daran, dass man früher einmal dafür gehängt werden konnte, wenn man sich das Pferd eines anderen aneignete. Sie fragte sich, ob das wohl noch immer so war. Keines der Pferde gehörte ihr. Ihre eigenen hatte sie in den Bergen verloren. Hunt hatte es nicht erklärt, aber sie konnte sich denken, wo sie hin waren. Es machte sie traurig, an diese Tiere zu denken, die sie so lange umsorgt hatte, und daran, dass sie jetzt nicht mehr da waren.
Sie nahm ihr Handy vom Nachttisch und versuchte noch einmal, Hunt zu erreichen. Sie hatten nur diesen ganz kurzen Moment miteinander gesprochen, als Hunt sich angehört hatte, als sei er verletzt und völlig außer sich, als er ihr gesagt hatte, sie solle abhauen, solle machen, dass sie wegkäme, und es dabei hatte bewenden lassen. Doch sie wusste, dass Adrenalin so etwas mit einem machen konnte; es konnte einen an einen Ort außerhalb des eigenen Selbst versetzen, und darauf hoffte sie. Hoffte, dass Hunt das alles überwinden konnte. Er hatte sie angewiesen, die Pferde mitzunehmen. Warum, hatte er nicht gesagt, doch sie wusste, dass er im Begriff war, sich abzusetzen. Sie hoffte einfach nur, dass er noch am Leben war. Jetzt, wo Hunt nicht ans Handy ging, machten sich allmählich Zweifel breit, und sie fühlte, wie dieser Gedanke da unten in ihrem Magen ruhte und zu einer Übelkeit erregenden kleinen Schmerzkugel aushärtete.
Vorgestern Abend war sie ins Bett gegangen und hatte gedacht, wenn sie am Morgen aufwachte, würde er da sein. Jetzt wusste sie nicht, was sie denken sollte. Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben. Sie hatte ihm das Versprechen abgerungen, dass er heimkommen würde, und er war nicht heimgekommen. Er ging nicht an sein Telefon. Waren ihr die Gefahren dieses Geschäfts nicht immer bekannt gewesen? Irgendwie war sie blind gewesen; vielleicht war irgendein Aspekt ihres Unterbewusstseins daran schuld. Obwohl sie Bescheid über ihn gewusst hatte, von seiner Vergangenheit gewusst hatte und wie er sein Geld verdiente, war ihr nie, nicht wirklich und wahrhaftig, in den Sinn gekommen, dass er einfach verschwinden könnte.
***
Grady zog die Nadel durch. Er betrachtete sich im Spiegel einer Raststätten-Toilette. Es war noch früh, und er hatte mit einem Radschlüssel das Schloss von der Tür abgesprengt. In seinem Messerkoffer hatte er zwei Meter grobes Küchengarn gefunden, cremeweiß und so dick wie Spaghetti. Mit den Fingern der einen Hand drückte er die Platzwunde auf seiner Stirn zusammen und zog das Garn mit der Bridiernadel durch die Haut. Ein dumpfer Druck, das dicke Garn blieb beim Durchrutschen hängen. Blutstropfen bildeten sich und fielen herab. Er tupfte mit dem Hemdsärmel daran herum, tunkte das Blut auf. Es war nichts weiter dabei, und nach drei Minuten war er fertig. Dort, wo er mit dem Kopf aufgeschlagen war, verfärbte sich die Kopfhaut violett. Sie war so geschwollen, dass der Schmerz ihn gar nicht direkt traf, sondern in kleinen Attacken abprallte und abglitt, wenn erst die Nadel und dann das Garn durchrutschten. Als er fertig war, verknotete er die Enden sorgfältig, schnitt das überschüssige Garn mit dem kleinen Ausbeinmesser ab und musterte sich im Spiegel. Abgesehen von dem kleinen violetten Widerschein am Haaransatz sah er weitgehend so aus wie vorher. Sein Haar verdeckte den größten Teil des Schadens, und in drei Tagen, dachte er, würde es sein, als wäre nichts geschehen.
***
Als Hunt erwachte, konnte er die Morgensonne unter dem Rollo hindurchkriechen sehen. Er roch Rauch, und als er ans Fenster humpelte, sah er Roy draußen im Garten stehen und ein Bündel blutiges Bettzeug verbrennen. Hunts Bein war frisch verbunden. Obgleich es stärker geschwollen zu sein schien als vorher, fühlte er sich mit der verbundenen Wunde ganz wohl.
»Gestern Nacht dachten wir ganz kurz, wir würden heute dich da draußen verbrennen.«
Hunt drehte sich um und erblickte Nancy, die mit einer Ausgabe der Zeitung aus Seattle in der Hand wartete. »Danke«, sagte er. »Tut mir leid wegen gestern Nacht. Ist Thu noch hier?«
»Ich habe sie ins Schlafzimmer geschickt, damit sie sich hinlegt. Sie hat uns gestern Nacht das Boot gezeigt.«
»Ich sollte hier verschwinden«, sagte Hunt. »Vielen Dank. Aber ich sollte gehen.«
»Wir haben es versenkt.«
»Das Boot?«
»Roy hat es so gegen drei Uhr aufs Wasser rausgeschleppt und die Lenzklappen geöffnet. Ist ganz leicht abgesoffen, bei all den Löchern, die du da dringelassen hast.«
»Es ist weg?«
»Da
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