Schwanengesang (German Edition)
deiner Familie werden?«
Gabriel schnaubte belustigt. »Ich habe gestern noch mit meinen Töchtern telefoniert«, sagte er. »Sie sagen inzwischen ›Papa‹ zu diesem Sandro. Julia meint sogar, Lisa und Hannah Laetitia seien endlich wieder glücklich. Und sie ebenfalls. Du siehst also, Marc: Ohne mich geht es allen besser.«
»Das kannst du nicht im Ernst denken. Ich …«
»Keine Diskussionen mehr, Marc«, schnitt Gabriel ihm das Wort ab. »Verschwinde einfach. Glaub mir: Es ist zu deinem eigenen Besten!«
»Du machst doch keinen Unsinn, oder?«
Gabriel setzte ein bitteres Lächeln auf. »Du weißt doch genau, wie die letzte Staffel endet, nicht wahr? Folge 356: Endspiel .«
»Ja, das weiß ich. Und deshalb gehe ich hier auch nicht weg.«
Gabriel hob die Waffe ein wenig und richtete sie jetzt genau auf Marcs Kopf. »Verschwinde endlich, Marc, bevor ich es mir anders überlege.«
»Du wirst mich nicht erschießen. Du hast es gestern nicht getan und du kannst es auch heute nicht.«
»Lass es besser nicht darauf ankommen, Marc. Hau ab!«
»Nur wenn du mir deine Pistole gibst.«
Marc sah, dass Gabriel zu einer wütenden Entgegnung ansetzen wollte, aber plötzlich zog ein Lächeln über sein Gesicht. »Also gut, Marc, du hast gewonnen. Ich habe gar nicht gewusst, dass du so hartnäckig sein kannst.«
Er drehte die Pistole um, griff sie am Lauf und reichte sie Marc herüber.
Der nahm die Waffe entgegen, bevor er erleichtert durchatmete. »Und jetzt lass uns runtergehen.«
Gabriel winkte ab. »Ich brauche noch ein bisschen Zeit für mich«, sagte er.
»Bist du dir sicher?«
»Ja. Lass mich einfach noch ein paar Minuten allein. Ich verspreche dir, dass ich brav hier sitzen bleibe, bis sie mich holen.«
Marc stand auf. »Also gut. Wir sehen uns in fünf Minuten.«
Er ging auf die Tür zu, aber dann hörte er Gabriels Stimme noch einmal in seinem Rücken. »Denk an die letzte Folge, Marc! Denk an die letzte Folge! Dann wirst du alles verstehen!«
Marc zögerte einen winzigen Moment. Was hatte das zu bedeuten? In der letzten Folge der letzten Staffel, Endspiel , erschoss sich J. R. mit seiner Pistole. Aber Gabriel konnte sich jetzt nicht mehr erschießen. Er, Marc, hatte seine Waffe in der Hand. Also beschränkte Marc sich auf ein knappes Kopfnicken, bevor er die Kanzlei seines Freundes verließ. Doch war Gabriel überhaupt noch sein Freund?
Marc stieg die Treppe hinab, um die unten wartende Polizei zu alarmieren. Er war gerade im Erdgeschoss angekommen und öffnete die Haustür, als er einen Schuss hörte, der durch das ganze Treppenhaus hallte. Marc blieb wie vom Donner gerührt stehen. Nach einer Schrecksekunde hastete er die Stufen wieder hoch und stieß die Tür zu Gabriels Büro auf.
Als er seinen Freund sah, konnte er nur noch drei Worte ausstoßen: »O mein Gott.«
Teil 4
J. R. kehrt zurück
42
Am Tag von Gabriels Beerdigung war der Himmel dem Anlass entsprechend bedeckt und es fiel ein leichter Nieselregen.
Marc hatte sich etwas verspätet. Als er in der Trauerhalle eintraf, sprach der Pfarrer gerade mit Julia. Ansonsten waren kaum Besucher anwesend, Gabriel hatte keine Geschwister gehabt und seine Eltern waren bereits vor vielen Jahren gestorben. Lediglich zwei seiner ehemaligen Kommilitonen und Gabriels Sekretärin saßen in den Stuhlreihen, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Außer Julia hatte sich auch aus Stuttgart niemand blicken lassen. Keine früheren Kollegen von der Fuldaer , wo Gabriel immerhin mehrere Jahre gearbeitet hatte, und natürlich auch nicht seine schwäbischen ›Freunde‹, die zumindest indirekt Schuld an Gabriels Absturz trugen.
An der Stirnseite der Halle war ein schlichter Sarg aufgebahrt, der von zwei Kerzen in hohen Ständern flankiert wurde. Auf dem Sarg lag ein Blumenbouquet, davor ein einsamer Kranz mit Schleife. Links neben dem Sarg stand ein großformatiges Foto eines lächelnden Gabriel auf einer Art Staffelei.
Marc wollte Julia begrüßen, aber in diesem Moment begann der Pfarrer mit seiner Predigt. Obwohl in der Halle mehr Platz als genug war, setzte Marc sich in die hinterste Reihe. Er bekam kaum mit, was der Geistliche erzählte, und merkte erst wieder auf, als der Sarg, gefolgt von der kleinen Trauergemeinde, die Halle verließ. Marc schloss sich dem Zug als Letzter an. Der Nieselregen war in einen Platzregen übergegangen und es schüttete wie aus Kübeln. Schirme wurden aufgespannt und Kapuzen aufgesetzt. Marc verfügte weder über das
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