Schwanengrab
bog ich in die Straße, in der die Praxis lag. Als ich mein Fahrrad abstellte und abschloss, wischte ich mir die Tränen ab. Warum war alles so kompliziert? Heute Morgen wollte mich Christoph noch küssen und nur wenige Stunden später war alles vorbei.
Der Lift brachte mich nach oben, wo ich mich bei der Sprechstundenhilfe anmeldete. Das Wartezimmer war, bis auf zwei Patienten, leer. Ich setzte mich ganz in die Ecke, nahm irgendeine Zeitschrift (es war ein Motorradblatt) und vergrub mich dahinter. Es musste schließlich keiner sehen, wie mir immer wieder Tränen über die Wangen liefen. Es dauerte nicht lange, dann war ich an der Reihe und wurde in das Behandlungszimmer geführt. Der Arzt erkundigte sich gleich, ob ich erkältet sei. Statt einer Antwort nickte ich nur benommen.
Anderthalb Stunden später blickte ich in den Spiegel, den man mir vorhielt. Weiße Zähne strahlten mir entgegen, ohne das störende Metall. Das hatte ich mir so sehr gewünscht. Aber irgendwie war ich wie taub. Konnte mich gar nicht daran freuen. Als ich mich wieder aufden Heimweg machte, war es kurz vor halb fünf. Um sechs Uhr hatten sich Christoph und ich für die Nachhilfestunde verabredet. Aber das war ja nun hinfällig.
Wie mechanisch sperrte ich die Wohnung auf. Bei dem Gedanken, dass Christoph nun nicht kommen würde, stiegen mir wieder Tränen in die Augen. Ich holte mein Handy aus der Tasche und lud es auf. Eine neue SMS – von Neela:
Hallo, Samantha! Kein Problem mit dem Termin heute. Hat eh nicht geklappt. Sachbearbeiterin ist krank und Friedhofsgärtner hat keine Ahnung. Melde mich später, Neela
Gut. Mir war es egal. Eigentlich wollte ich gar nichts mehr hören und auch nichts mehr sehen.
Ich warf mich auf mein Bett. Was sollte ich machen? Mein Handy piepste erneut. Noch eine neue Nachricht. Kein Absender, keine Nummer. Erwartungsvoll öffnete ich die SMS.
Als ich den Text las, begannen meine Finger zu zittern. Ich starrte auf das Display:
Du hattest recht! Ich liebe Veronika noch immer. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hast du mich so sehr an sie erinnert. Ich kann nicht mit dir zusammen sein, das wäre nicht fair. Ich würde nur immer sie in dir sehen. Es tut mir leid, Christoph
Die Buchstaben auf dem Diplay verschwammen vor meinenAugen. Ich heulte los und vergrub mein Gesicht in meiner Tagesdecke. Erst jetzt spürte ich, wie sehr ich ihn mochte. Es tat so weh, seine Worte zu lesen, und ich weinte, bis langsam ein anderes Gefühl in mir hochkroch und sich in mir ausbreitete. Wie konnte er nur so ein fieses Spiel mit mir spielen? Ich hatte selbst meine Mam verloren. Aber so etwas würde ich nie machen. Ich war so enttäuscht, so unglaublich verletzt. Wütend hackte ich eine Nachricht in mein Handy und schickte sie an Christophs Nummer, die ich aus meinem Telefonverzeichnis suchte:
Es wäre besser gewesen, wir hätten uns nie kennengelernt. Ich werde mir nächste Woche eine andere Schule suchen. Sam
Kurz überlegte ich, ob ich es noch einmal bei Neela versuchen sollte, aber eigentlich hatte ich keine Lust, mit jemandem zu sprechen. Und außerdem: Was ging es mich an, wer in welchem Grab lag? Und worin die Verbindung zu Veronika bestand? Es war mir egal. Allein bei dem Gedanken an ihren Namen zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ihr Grab, die rote Rose, die Vorstellung, wie Christoph die Blume auf ihren Grabstein legte ...
Ich fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht, als könnte ich so die Gedanken vertreiben.
Schließlich schaltete ich mein Handy aus, ließ es aber am Ladekabel.
Was ich jetzt brauchte, war eine echte Freundin. Ichloggte mich in meinen E-Mail-Account ein. Eine neue Nachricht von Sarah. Sie schrieb mir, wie sehr sie Jester liebte, was sie alles mit ihm unternahm und wie oft am Tag er sie küsste. Genau das, was ich jetzt brauchte, dachte ich bitter. Nicht, dass ich ihr dieses Glück nicht gönnte. Aber ich war jetzt einfach nicht in der Verfassung, mir ihre Liebesgeschichten anzuhören. Natürlich war sie sowieso nicht online. In Berkeley hatte der Unterricht gerade erst begonnen.
Warum auch immer – ich loggte mich in den Schulchat ein. Mike war on, natürlich. Eigentlich wollte ich mit ihm gar nicht chatten, aber er war verdammt schnell.
Mike: Hey Sunny!
Seine Nachricht kam, noch bevor ich mich wieder ausloggen konnte. Er schien regelrecht auf mich zu lauern.
Sunny: Hey!
Mike: Wie geht’s? Hab gehört, du hast die Hauptrolle in Schwanensee . Die neue Odette, der neue
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