Schwarze Schmetterlinge
Felsrand. Er bekam mit den Fingern eine Spalte zu fassen, dann eine kleine Tanne, die nachgab, Pernillas Bein, Pernillas Jacke. Das eine Bein wieder hinauf über die Kante und dann das andere. Das Adrenalin rauschte durch den Körper. Das Herz saß ihm als Kloß im Hals. Wie ein achtbeiniges Insekt rollten sie ein paar Meter von dem Abgrund weg, bis er die Augen öffnete und ihr Gesicht über sich sah. Den schreienden Mund. Die weit geöffneten Augen. Und sie küsste ihn. Bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Eine lange Weile blieben sie fest umschlungen auf dem harten Boden liegen.
»Ich hab mich so erschrocken. Du bist mein kleiner Bruder, du gehörst nur mir.«
Ich bin ein großer Egoist, dachte er. »Tut mir leid, Pernilla. Ich kann nicht so schnell begreifen. Ich brauche Zeit. Ich verstehe, dass es unglaublich schwer gewesen sein muss.«
21
Nach dem ersten anregenden Gefühl, als das Leichenfeuer des Conventum brannte, hatte das Grau des Alltags wieder die Oberhand gewonnen. Stück für Stück war die Unruhe herangekrochen. Durch ihren Kontakt zu den Seherinnen meinte Pyret ein Fenster zur Zukunft gefunden zu haben. Eine Möglichkeit, sich Vorteile zu verschaffen und Kontrolle zu gewinnen. Sie hatte gehandelt, ohne daran zu denken, dass sie sich damit auch selbst entblößte. Hätte sie sich auf die anonymen Gespräche am Tarot-Telefon beschränkt, dann wäre sie nicht in eine so gefährliche Situation geraten.
Am meisten Einsicht und Nähe hatte ohne Frage Madame Elaine gezeigt. Die Ergebenheit, die sie in Bezug auf ihre besondere Gabe zeigte, war etwas Besonderes. »Eigentlich haben wir alle mehr oder weniger Kontakt mit dieser Form des Bewusstseins«, hatte sie erklärt. »Haben Sie noch nie gespürt, dass jemand Sie ansieht, und wenn Sie sich umdrehen, dann steht jemand da? Oder an jemanden gedacht, der gleichzeitig an Sie dachte? Man kann nicht alles, was geschieht, in einem Labor wiederholen. Wenn Sie einmal richtig verliebt waren, dann werden Sie verstehen, was ich meine. Würden Sie in einem Labor und auf Kommando dieses Gefühl wiederholen können?«
Pyret hatte nachgedacht. Das Gefühl der Verliebtheit, dieser berauschende Zustand, diese selbst gewählte, schlichtweg pathologische Verletzlichkeit – danke bestens. Wer würde sich einen solchen Wahnsinn herbeiwünschen? Nein, da konnte sie nur ihrem glücklichen Stern danken, dass sie derartige Gefühle nie hatte hegen müssen. Männer waren in der Hinsicht ja so leicht zu manipulieren. Was war Sex denn anderes als Technik? Was war Zusammengehörigkeit anderes als ein paar ständig wiederholte bestätigende Phrasen? Dass ein Mensch freiwillig für die erzwungene Hölle der Verliebtheit alle Kontrolle fahren ließ, lag für sie außerhalb jeder Vorstellung.
Unterlagen Seherinnen der Schweigepflicht? Beim Gedanken daran, dass die Sozialbehörden von geschwätzigen Kartenlegerinnen Argumente erhalten könnten, musste sie den Mund verziehen. Natürlich unterlagen sie nicht der Schweigepflicht. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Natürlich wusste Madame Elaine, was Pyret getan hatte. Solange es sie da draußen gab und sie sich in ihr Bewusstsein einschalten konnte, würde sie sich nicht sicher fühlen können. Eine schlimme Erkenntnis.
Madame Elaine nahm die Buchung einer weiteren Séance mit einem Gefühl der Beunruhigung entgegen. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, fühlte sie die Kälte durch ihren ganzen Körper kriechen, sogar in die Beine, die sonst keinen Kontakt zum Bewusstsein hatten. Eine dringende Kundin, die anonym bleiben wollte. Das Gefühl einer Gefahr folgte ihr in die Küche, wo sie den Wasserkocher einschaltete, um sich ihren Vormittagstee zu machen. Es verließ sie auch nicht, als die Friseurin wie jeden Tag zur Gesichtspflege, Maniküre und Haarpflege kam. Nicht einmal die Fußmassage konnte ihr die Entspannung schenken, auf die sie gehofft hatte.
Als die Friseurin sich verabschiedet hatte, wartete Elaine Fernström, bis die Tür ins Schloss fiel. Dann rollte sie zu ihrem kleinen braunen Tisch und zündete die Kerze an. Nicht einmal in der Meditation konnte sie Ruhe finden, und sie gab nach zehn Minuten auf. Die Tarotkarten lagen noch da, wo sie sie hingelegt hatte. Sie hatte sich vorgenommen, nicht vor dem Silvesterabend über die Karten ihre eigene Zukunft erfahren zu wollen. Aber den Karten eine Frage zu stellen, das bedeutete ja nicht, den Ereignissen auf dieselbe Weise
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