Schwelbrand
nachdem man mich ans Telefon gerufen hat. Müssen Sie mich beim Puzzeln stören?«
»Dem entnehme ich, dass Sie am Husumer Fall arbeiten.«
»Habe ich eine Alternative? Man hat uns so viele Einzelteile gebracht, dass wir keinen Platz für andere Fälle haben.«
Lüder war sich sicher, dass man in dem Job, den der Arzt ausübte, nur mit einer gehörigen Portion Zynismus überleben konnte. Deshalb nahm er ihm seine Art nicht übel.
»Haben Sie schon etwas für uns?«, fragte er.
»Sicher«, antwortete Dr. Diether. »Die Todesursache.«
Lüder war erstaunt. »Das ging aber zügig.«
»Das war einfach«, sagte der Arzt. »Lungenentzündung.«
Lüder war sprachlos. »Wollen Sie mich jetzt veräppeln?«
»Ich muss mit Ihnen auf diese Weise reden. Anders verstehen die Juristen es doch nicht. Durch den Aufprall war das Opfer so zerrissen, dass alles freigelegt wurde. Da nimmt die Lunge zwangsläufig Schaden. Und wenn Sie ein wenig Geduld haben, nenne ich Ihnen noch mehrere Dutzend anderer Todesursachen. Tatsächlich ist er aber an Herzversagen gestorben.«
»Das heißt, sein Herz hat versagt, bevor er verunglückte?«
»Nein, das nicht. Haben Sie schon einmal gehört, dass das Herz grundsätzlich versagt, wenn jemand stirbt? Es sei denn, wir haben einen Hirntod, das heißt, dass –«
»Genug«, unterbrach ihn Lüder. »Ich möchte keinen wissenschaftlichen Vortrag. Wann haben Sie den Bericht fertig?«
»In zwanzig bis zweiundzwanzig Jahren. Dann bin ich mit Sicherheit Pensionär und werde vielleicht einen Aufsatz über diesen Fall schreiben.«
»Wie gut, dass Sie Rechtsmediziner geworden sind«, sagte Lüder. »Jemanden wie Sie hätte man nicht auf Patienten loslassen dürfen.«
»Stimmt«, antwortete Dr. Diether und lachte. »Als Arzt hätte ich es mir nicht leisten können, einen Fehler zu machen, wenn ich mir vorstelle, dass mich womöglich ein Jurist wie Sie vor Gericht verteidigt hätte.«
Lüder wünschte dem Mediziner einen schönen Tag. Er wusste, dass die Autopsie bei Dr. Diether in besten Händen war.
Dann führte er erneut mehrere Telefongespräche und fragte ab, ob es Neuigkeiten gebe. Nichts.
Lüder sah auf die Uhr. »Ich möchte einen Ausflug unternehmen«, sagte er. »Nach Kleinjörl.«
Große Jäger zeigte sich nicht überrascht. Er kannte die kleine Gemeinde, genau genommen den Ortsteil der Gemeinde Jörl, die am westlichen Rand des Kreises Schleswig-Flensburg lag.
Auf der Fahrt erläuterte Lüder den Zweck seines Besuchs. »Dort wohnt Mogens Aasgaard.«
»Das klingt dänisch«, merkte Große Jäger an. »Ich glaube, den Namen schon einmal gehört zu haben.«
»Richtig. Aasgaard gehört der dänischen Minderheit an, der in der Bonn-Kopenhagener-Erklärung bereits 1957 besondere Rechte eingeräumt wurden.«
»Aha. Die dürfen also Polizeibeamte ermorden.«
»Das war jetzt zu weit geschossen«, sagte Lüder mit einem Tadel in der Stimme. »Die Dänen sind eine eigene ethnische Gruppe und genießen einen besonderen Minderheitenschutz wie die Sorben, Friesen, aber auch Sinti und Roma. Bei der Abstimmung über den Grenzverlauf zwischen Deutschland und Dänemark 1920 haben diese Menschen auf der aus ihrer Sicht falschen Seite der neuen Grenze gelebt. Heute sind sie voll integriert und engagieren sich in vorbildlicher Weise für das Gemeinwohl, sei es im Bildungsbereich oder im kulturellen Leben.«
»Und dazu wollen wir ihnen gratulieren?«
»Mogens Aasgaard ist in der Vergangenheit dadurch aufgefallen, dass er sich durch radikale Äußerungen hervorgetan hat und für einen Anschluss an Dänemark eintritt.«
»Ich verstehe«, sagte Große Jäger. »Ist das nicht sehr gewagt? Von den zweieinhalb Millionen Menschen in Schleswig-Holstein leben etwa zwanzig Prozent, also eine halbe Million, im Landesteil Schleswig.«
»Und davon wiederum bekennen sich zehn Prozent zur dänischen Minderheit.«
»Also circa fünfzigtausend. Und die wollen uns aufoktroyieren, dass der Teil vor dem Bindestrich wieder Dänemark angeschlossen werden soll.«
»Oktroyieren«, korrigierte ihn Lüder. » Auf oktroyieren ist doppelt gemoppelt. Nein. Das trifft nicht zu. Die dänische Volksgruppe, das sind loyale deutsche Bürger. Ich möchte allerdings von Mogens Aasgaard wissen, ob er etwas von einer radikalen Bewegung gehört hat, die im Verborgenen blüht.«
Hinter der Rendsburger Hochbrücke über den »Kanal«, wie die Einheimischen den Nord-Ostsee-Kanal kurz zu bezeichnen pflegten, hatte Lüder freie
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