Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
eingeflößt hatte, müssen sehr bald die Schmerzen gekommen sein. Außerdem wog er allenfalls noch fünfundvierzig Kilo. Normalerweise sind hundert bis zweihundert Milliliter Methanol nötig, um einen Erwachsenen umzubringen. Um Bill Martin zu töten, brauchte man aber wahrscheinlich nicht einmal annähernd so viel.«
Reynolds schüttelte den Kopf und lächelte matt. »Es ist eine böse Ironie, dass sie es ihm ausgerechnet in den Scotch geschüttet haben. Der enthält nämlich Äthanol, ein Gegengift zum Methanol, weil sie beide an das gleiche Enzym andocken. Allerdings war dermaßen viel Methanol in der Flasche, dass das Äthanol niemals dagegen angekommen wäre. Bill Martin hat vielleicht noch vor Schmerzen geschrien, aber seine Frau hat nichts gehört – zumindest sagt sie das. Also wird er wohl die ganze Nacht dagelegen haben, bis es endlich vorbei war. Selber aufstehen und Hilfe holen konnte er nicht, da er längst ans Bett gefesselt und ein Pflegefall war.«
»Mildred dürfte mit Gin abgefüllt gewesen sein. Sie bechert ja selber ganz gerne«, bemerkte King.
»Diese Krankenschwester hat offenbar die Gepflogenheiten im Hause Martin gründlich studiert«, fügte Joan hinzu. »Sie wusste, dass beide tranken und getrennte Schlafzimmer hatten. Und als sie dann auch noch herausfand, dass Bill Scotch trank und seinen eigenen Vorrat hatte, den Mildred nie anrührte, da stand ihr Mordplan fest. Um jedwedem Verdacht vorzubeugen, kam es jetzt nur noch darauf an, dass sie bereits möglichst lange vor der Tat aus dem Blickfeld der Martins verschwand.«
Reynolds nickte. »Man hätte Bill natürlich auch auf andere Weise umbringen können. Entscheidend für die Täter war jedoch, dass niemand auf die Idee kam, eine Autopsie durchführen zu lassen. Sie hätte nämlich den Zeitplan für die Aufbahrung und Beerdigung durcheinander gebracht. Er musste also in seinem Bett sterben – und das geschah ja dann auch. Mildred hat ihn dort gefunden und prompt angenommen, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Ein friedlicher Tod kann es allerdings nicht gewesen sein, sagen die Ärzte. Methanol verwandelt sich in Formaldehyd. Das ist giftig und oxydiert schließlich zu Ameisensäure – und die ist noch sechsmal tödlicher als Methanol.«
»Dann war Martin im Grunde genommen schon einbalsamiert, bevor er in diese Leichenhalle kam«, sagte King.
»Stimmt. Nach Aussagen der Mitarbeiter John Brunos standen an diesem und am nächsten Tag mehrere Wahlkampfauftritte in der näheren Umgebung auf dem Terminkalender ihres Chefs. Die Regeln des Bestattungsinstituts sehen vor, dass eine Leiche zwei Tage lang öffentlich aufgebahrt wird. Martin starb an einem Montag und wurde noch am Abend vom Bestattungsunternehmen abgeholt. Am Mittwoch und Donnerstag war die Leiche aufgebahrt, das Begräbnis sollte am Freitag stattfinden. Und John Bruno kam am Donnerstag.«
»Immer noch ein ziemlich knapper Zeitplan«, sagte Joan.
Reynolds zuckte mit der Schulter. »Wahrscheinlich der beste, der ihnen einfiel. Wie hätten sie John Bruno sonst in die Leichenhalle lotsen sollen? Sie konnten ihn schließlich nicht zu den Martins ins Haus bitten. Leichenhalle oder gar nichts, dürfte die Parole geheißen haben. Das war riskant, klar, aber es hat funktioniert.«
»Und die Überprüfung dieser Krankenschwester hat nichts gebracht, oder?«, fragte Joan.
Reynolds schüttelte den Kopf. »Um ein Klischee zu gebrauchen: Sie ist spurlos verschwunden.«
»Beschreibung?«
»Ältere Frau, mindestens fünfzig. Mittlere Größe, ein wenig untersetzt. Sie hatte mausbraunes Haar, schon ein wenig grau, obwohl das reingefärbt worden sein könnte. Und jetzt kommt das Beste: Sie hat sich Mildred als Elizabeth Borden vorgestellt.«
»Elizabeth Borden!«, rief King. »Wie in dem Kindervers von Lizzie Borden, die ihrer Mutter mit vierzig Axthieben den Schädel zertrümmert hat?«
»Das müssen Leute mit einem sehr makabren Sinn für Humor sein«, meinte Reynolds.
Joan sah ihn streng an. »Meinetwegen, dann sind es eben intelligente Mörder, die sich in der Kriminalgeschichte auskennen. Mörder sind sie trotzdem.«
»Nochmals vielen Dank für eure Hilfe«, erwiderte Reynolds. »Ich weiß nicht, wohin uns diese Spur noch führen wird, aber immerhin haben wir jetzt mehr in der Hand als vorher.«
»Was passiert nun mit Mildred Martin?«, fragte King.
Reynolds zuckte erneut die Achseln. »Wegen Dummheit kann man niemanden verhaften. Wär’s anders, müsste man die
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