Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
nichts.«
»Woher wollen Sie denn das so genau wissen? Haben Sie alle Details genau abgeklopft? Hat man Ihnen jede nur erdenkliche Frage gestellt? Wurde allen potenziellen Spuren nachgegangen?«
»Hören Sie, ich versuche so wenig wie möglich an die Vergangenheit zu denken, okay?«
»Dann ist das also ein klares Nein.«
»Würden Sie denn dauernd darüber nachdenken, wenn es um Ihren Vater ginge?«
»Ich würde auf jeden Fall nicht versuchen, mich vor der Wahrheit zu verstecken, Kate. Haben Sie denn überhaupt jemals mit irgendjemandem über das alles gesprochen? Wenn nicht, höre ich Ihnen gerne zu. Wirklich.«
Als Michelle Tränen über Kates Wangen rollen sah, legte sie ihr die rechte Hand auf die Schulter. Die beiden Frauen blieben stehen, und Michelle führte Kate zu einer Bank. Sie setzten sich.
Kate wischte sich mit einer Hand über die Augen und starrte dann stur ins Nichts. Michelle saß daneben und wartete geduldig.
Als Kate schließlich zu sprechen begann, kamen die Worte zögernd und leise. »Ich hatte grade Algebra, als sie kamen und mich aus der Klasse holten. Eben hatte ich noch x-plus-y-Aufgaben gelöst, und eine Minute später ist mein Dad eine landesweite Sensation. Wissen Sie, was das für ein Gefühl ist?«
»Als ob die ganze Welt zusammenbräche?«
»Ja«, sagte Kate leise.
»Konnten Sie denn mit Ihrer Mutter darüber reden?«
Kate machte eine wegwerfende Geste. »Was gab’s da schon zu reden? Sie hatte meinen Vater bereits verlassen. Es war ihre Entscheidung.«
»So haben Sie das gesehen?«
»Wie hätte ich ’s sonst sehen sollen?«
»Sie müssen doch irgendeine Vermutung haben, aus welchem Grund sich Ihre Eltern trennten. Ich meine, über das hinaus, was Sie uns schon erzählt haben.«
»Mein Vater wollte die Trennung nicht, das weiß ich.«
»Es geschah also auf Initiative Ihrer Mutter. Und Sie sagen, Sie kennen den Grund nicht – jedenfalls keinen anderen als den, dass sie das Gefühl hatte, ihr Leben mit Ihrem Vater sei vergeudete Zeit gewesen?«
»Eines weiß ich genau: Als meine Mutter ging, war sein Leben im Grunde zu Ende. Er hat sie angebetet. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er sich umgebracht hätte.«
»Nun, vielleicht hat er das ja.«
Kate starrte sie an. »Und sozusagen Clyde Ritter mit in den Tod genommen?«
»Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.«
Kate betrachtete ihre Hände. »Es hat angefangen wie ein Märchen. Mein Vater war zu seinen Collegezeiten ein politischer Aktivist. Bürgerrechtsdemonstrationen, Friedensmärsche, Sit-ins, er hat alles von A bis Z mitgemacht. Meine Mutter war Schauspielerin, eine Schönheit auf dem Sprung zum großen Star. Und dann haben sie sich ineinander verliebt. Mein Vater war groß und gut aussehend und gescheiter als alle anderen, und er wollte so viel Gutes tun. Er war ein nobler Charakter, wirklich. Er hatte Tiefgang. Sonst kannte meine Mutter nur Schauspieler, Bühnenleute, viele, viele aufgeblasene Typen darunter. Mein Vater war ganz was anderes. Er hat nicht bloß eine Rolle gespielt, sondern er zog hinaus und riskierte sein Leben, um eine bessere Welt zu schaffen.«
»Da kann eine Frau schon schwach werden«, sagte Michelle ruhig.
»Meine Mutter hat ihn geliebt, das weiß ich. Ich habe das alles von ihr und ihren Freunden gehört. Und ich hab ein paar Tagebücher aus ihrer College-Zeit gefunden. Sie haben sich wirklich geliebt. Deshalb begreife ich auch nicht, warum es am Ende doch nicht funktioniert hat. Wenn man andererseits bedenkt, wie verschieden sie waren, hat die Beziehung vielleicht sogar länger gedauert, als für die beiden gut war. Aber wenn sie bei ihm geblieben wäre, dann hätte mein Vater diese Tat vielleicht nie begangen.«
»Und es ist gut möglich, dass er sie nicht allein begangen hat, Kate. Das versuchen wir herauszufinden.«
»Sie und Ihre neuen Beweise, über die Sie nicht reden dürfen«, erwiderte Kate verächtlich.
»Eine Pistole«, erklärte Michelle mit fester Stimme. Kate schien überrascht, sagte jedoch nichts. »Eine Pistole wurde gefunden, von der wir glauben, dass sie am Tag des Mordes an Ritter im Fairmount-Hotel versteckt wurde. Wir sind der Meinung, dass sich ein zweiter Attentäter im Haus befand, der aber nicht geschossen hat.«
»Warum nicht?«
»Das wissen wir nicht. Vielleicht hat er die Nerven verloren. Vielleicht hatte er mit Arnold Ramsey vereinbart, dass sie die Tat gemeinsam begehen, im entscheidenden Moment aber dann gekniffen und alle Verantwortung
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