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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Trance aus dem Fenster. Die anderen weiter hinten, fast dreißig Traveller und Therapeuten, beobachteten die Ruinen von Neapel und das ruhige, feindliche Meer; der Tsunami vor zwei Jahren hatte den Teil der Stadt zerstört, der vom Ausbruch des Vesuv vierzehn Jahre zuvor verschont geblieben war.
    Der Reiseführer Thorpe stand auf und hielt sich an einer Schlaufe fest, während der Bus über die schmale Straße schaukelte. Er öffnete den Mund, seine Lippen bewegten sich, und er sprach von Neapel und den beiden Katastrophen, die die Stadt heimgesucht hatten, aber er hörte die eigenen Worte kaum. Sie waren ebenso wie die Eröffnungsszene vorbereitet und dienten dazu, die Konditionierung zu verstärken. Es kam darauf an, so schnell wie möglich eine Integration zu erzielen, Helen und den anderen keine Gelegenheit zu geben, Distanz aufzubauen und zu bewahren.
    Hitze und grelles Licht. Vielleicht auch noch etwas für die Nase.
    »Puh«, machte jemand weiter hinten, vielleicht Beatrice oder der dicke Stratford, der noch stärker schwitzte als die anderen und sich mit dem Prospekt, den sie alle beim Einsteigen erhalten hatten, Luft zufächelte.
    Helen rümpfte die Nase. »Es ist nicht nur viel zu heiß, jetzt stinkt es auch noch«, sagte sie und wirkte fast erleichtert, dass sie wieder über etwas klagen konnte.
    Thorpe unterbrach seinen Vortrag kurz. »Schwefeldämpfe«, sagte er. »Das Gas tritt an vielen Stellen aus kleinen Ritzen und Rissen. Der Vulkan ist noch immer aktiv.« Er deutete auf den grauen Rauchschleier, der über dem Vesuv hing.
    Einige der ganz hinten sitzenden Männer und Frauen blinzelten und sahen sich verwirrt um, aber als sich Thorpe auf sie konzentrierte, holte die Konditionierung sie ganz ins Hier, und es erfolgte eine vollständige Integration: Sie wurden zu Katastrophentouristen, nicht auf der Suche nach Schönheit und Entspannung, sondern nach dem Nervenkitzel von Tod und Zerstörung.
    Zögern Sie nicht, die vorbereiteten Szenen ganz auszudehnen und sich selbst in sie zu integrieren, Thorpe. Wir haben Ihnen gezeigt, wie das geht. Das Tetranol hilft Ihnen dabei. Nehmen Sie unmittelbar vor der Reise eine ausreichende Dosis. Verstehen Sie, Thorpe?
    »Ja, ich verstehe«, sagte Thorpe.
    »Was?«, fragte Helen; ihre Augen waren nur als vager Glanz hinter den dunklen Gläsern der Sonnenbrille erkennbar.
    Thorpe lächelte – immer lächeln; ein Lächeln schadet nie – und setzte den Vortrag fort.
    Der Anfang ist wichtig. Die Integration muss sofort erfolgen. Stecken Sie die Traveller und ihre Therapeuten in die vorbereiteten Rollen. Wir rechnen mit zwanzig bis fünfundzwanzig Personen. Die Konditionierung erfolgt beim Sprung in den Space; den Rest müssen Sie bewusst steuern. Verstehen Sie, Thorpe?
    Ja, ich habe verstanden, dachte Thorpe und zählte, während er sprach. Es sind neunundzwanzig. Ich habe neunundzwanzig aufgenommen, vier mehr als die maximale Anzahl. Er sprach weiter, über pyroklastische Ströme, die den südöstlichen Teil von Neapel unter sich begraben hatten, wie vor zweitausend Jahren Pompeji – alle Blicke gingen aus dem Fenster, bis auf den von Helen, bemerkte Thorpe; sie sah ihn an –, und über die sechs Meter hohen Wellen des Tsunamis, der den westlichen Teil der Stadt erfasst und etwas geschaffen hatte, das wie ein Schattenbild der längst untergegangenen Lagunenstadt Venedig anmutete: die Gerippe von Gebäuden, grau und schwarz von Asche, zwischen ihnen Kanäle, ausgewaschen und vertieft von den drei Sturmfluten nach dem Tsunami. Das Meer gab nicht wieder her, was es sich einmal genommen hatte, sagte Thorpe, woraufhin die Blicke zum Meer gingen – bis auf den von Helen –, das ruhig dalag und den Sonnenschein gleißend reflektierte.
    »Wer sind Sie?«, fragte Helen plötzlich. »Sie gehören nicht hierher. Wer sind Sie?«
    Thorpe beugte sich abrupt vor und löste die Sensoren von Stirn und Schläfen. Die Traveller und Therapeuten rührten sich nicht; sie blieben auf der Reise.
    »Was ist los?«, fragte Dr. Anderson besorgt. »Was ist geschehen?«
    Thorpe, der andere Thorpe, blinzelte mehrmals und stand auf. »Ich habe es nicht geschafft«, log er. »Die anderen sind ohne mich auf die Reise gegangen.« Er wankte zur Tür.
    »Wohin wollen Sie?«, fragte Rasmussen und trat vor die Tür.
    »Aus dem Weg«, sagte Thorpe, und diesmal lächelte er nicht.
    »Aus dem Weg«, sagte der Reiseleiter, und er blinzelte, wie zuvor der andere Thorpe geblinzelt hatte.
    »Was?« fragte

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