Seelenkuss
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Darejan riss sich los und floh aus seiner Zelle. Er hörte das raue Gelächter der Soldlinge, dann schlug die Tür mit einem Krachen zu. Soweit es ihm seine Ketten erlaubten, kauerte Réfen sich unter dem Mantel zusammen.
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S ie konnte noch immer nicht glauben, dass sie es tatsächlich getan hatte.– Aber sie stand hier, verborgen im Schatten eines engen Durchgangs zwischen zwei Hütten, und beobachtete eine kleine Schenke am Rand der Lagunenstadt. Hier hatte sie nach Stunden, in denen sie die Kaschemmen abgesucht hatte, endlich eine Spur gefunden, die sie vielleicht zu dieser Kajlan führte. Darejan zog den dunklen Umhang enger um sich, den sie sich von Briga geborgt hatte. Was sie dazu gebracht hatte, Réfens Bitte nachzugeben, wusste sie nicht. Die Verzweiflung in seiner Stimme? Die Angst, die sie in seinen Augen gesehen hatte, bevor er begriff, dass sie es war, die sich über ihn beugte?– Oder der Umstand, dass sie einfach nicht glauben konnte, was Seloran ihr erzählt hatte? Der Mann, dem sie neben ihrer Schwester mehr vertraute als jedem anderen, konnte kein Verräter sein! Zumindest war sie davon überzeugt gewesen, bis sie eben in der Schenke nach dieser Kajlan gefragt hatte. Die Art, wie der Wirt sie angesehen hatte, ehe er vorgab, noch nie von einer Kajlan gehört zu haben, nur um sie dann brüsk fortzuschicken, hatte den letzten Rest Hoffnung zerstört: Das alles war kein Komplott gegen Réfen! Er hatte wirklich etwas mit der Flucht dieses Spions zu tun.
Im ersten Moment der Enttäuschung und des Zorns hatte sie in den Jisteren-Palast zurückkehren und Seloran davon erzählen wollen– doch irgendetwas hatte sie davon abgehalten. Ein… Gefühl. Sie rieb sich die Schläfe, als die Kopfschmerzen zurückkehrten, die sich zuvor schon hinter ihrer Stirn eingenistet hatten. Es war nicht mehr als eine vage Ahnung. Das Wispern von etwas, das sie nicht festhalten konnte. Und das ihr unerklärlicherweise Angst machte.
Darejan war sich nicht sicher, wann sie beschlossen hatte herauszufinden, was Réfen tatsächlich mit diesem Spion aus den Nordreichen zu tun hatte. Möglicherweise hatte er ja gute Gründe für seine Tat.– Und wenn dem so sein sollte, würde sie Sterne und Meer in Bewegung setzen, um zu beweisen, dass er kein Verräter war.
Rasch zog sie sich ein bisschen weiter in die Dunkelheit des Durchganges zurück, als sich die Tür der Schenke öffnete und ein kleiner Junge herauskam. Endlich! Er blickte einen Moment scheinbar sichernd die Straße entlang, dann wandte er sich nach rechts und glitt hastig in einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern. Sie konnte nur hoffen, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag und der Kleine zu dieser Kajlan geschickt worden war, um sie zu warnen, dass jemand nach ihr suchte. Entschlossen zu tun, was immer nötig war, um Réfen zu helfen, verließ sie ihr Versteck und folgte dem Jungen vorsichtig tiefer in die Dunkelheit der Lagunenstadt hinein.
Das einzige Licht, das es hier gab, war der silberbleiche Mondschein. Doch selbst ihm gelang es kaum, den bitter schmeckenden Nebel zu durchdringen, der über allem wie eine klammfahle Decke lag und sogar die Klippen und die Seetürme in seinem wabernden Grau verschluckte. Selbst das leise Klatschen der Wellen unter den Gedanholzbohlen unter ihren Füßen hatte etwas seltsam Unwirkliches. Auch die goldenen Lichtfinger, die immer öfter durch einen Riss in dem Sackleinen, mit dem die Fenster der Hütten verhängt waren oder durch Ritzen in den Holzwänden sickerten, je tiefer sie in den alten Teil der Lagunenstadt hineinkamen, änderten daran nichts. Stimmen klangen zu ihr her, aber sie schienen aus weiter Ferne zu kommen. Ein paar Mal tauchten Schatten unvermittelt vor ihr auf, bewegten sich an ihr vorbei und verschwanden wieder, wie sie gekommen waren. Niemand schien sie zu beachten. Ein gutes Stück vor ihr drückte der Junge sich durch die schmalen Durchgänge, bis er plötzlich stehen blieb und leise gegen eine Tür pochte. Sofort presste Darejan sich gegen eine feuchte Hauswand. Ein halblauter Wortwechsel folgte, dann öffnete sich für einen Augenblick ein goldenes Viereck, in dem der Kleine verschwand und das sich hinter ihm gleich wieder schloss.
Darejan zögerte, blickte sich wachsam um. Abgesehen von dem sanften Flüstern der Wellen war es still. Ihre Hand kroch zu ihrem Dolch. Sie wusste, was man sich über die Lagunenstadt erzählte. Ärgerlich biss sie die Zähne zusammen, sah sich noch einmal um
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