Seelenriss: Thriller
Blick ging zur offenen Balkontür, doch der Professor war nicht mehr zu sehen. Nein! Lena eilte hinaus und beugte sich über die Balkonbrüstung. Hektisch suchte sie mit den Augen die Einfahrt und die Straße ab. Doch Wallau war wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich vernahm sie ein schweres Atmen neben sich. Lena fuhr herum. Der Psychiater stand gut einen Meter von der Brüstung entfernt auf einem nur wenige Zentimeter breiten, bröckelnden Vorsprung. Lena gab der Sprechstundenhilfe ein Zeichen, zurückzubleiben. Sie wusste, ihr würde nicht viel Zeit bleiben, um den Mann davon abzuhalten, sich in den sicheren Tod zu stürzen. In den meisten Fällen betrug der Spielraum nur Sekunden, allenfalls ein paar Minuten. Ihre Pulsfrequenz schnellte in die Höhe. »Sie machen einen Riesenfehler«, sagte sie und bemühte sich mit ruhiger, fester Stimme zu ihm zu sprechen.
»Versuchen Sie es erst gar nicht und bleiben Sie, wo Sie sind, Peters!«, fauchte Wallau, als Lena Anstalten machte, sich ihm zu nähern. Schweiß rann ihm übers Gesicht, während er sich krampfhaft gegen die Hauswand presste.
»Warum?«, wollte Lena wissen und machte einen unmerklichen Schritt in seine Richtung. Ein Schauer durchzuckte ihren Körper, als sie sah, wie sich der Mann, an die Hauswand gelehnt, leicht vorbeugte.
Er reckte das Kinn vor. »Manchmal liegen die Dinge anders, als es scheint«, sagte er, schob seine kastenförmige Brille mit dem Zeigefinger hoch und richtete den Blick in die Tiefe. »Keiner weiß das so gut wie Sie, nicht wahr, Peters?«
Schweigend folgte Lena seinem Blick zur Straße hinunter. Sie wusste, dass sie dem Psychiater nicht mit der üblichen Strategie kommen konnte, die man anwendete, um jemanden vom Suizid abzuhalten. Also beschloss sie, eine andere Schiene zu fahren. »Oh, bitte – jetzt sagen Sie nicht, Sie wären auch ein Opfer«, stöhnte sie mit gespielter Coolness und bewegte sich wie in Zeitlupe weiter auf ihn zu. Sie war jetzt kaum drei Armlängen von ihm entfernt.
Plötzlich blickte Wallau mit kalten Augen auf und schenkte ihr ein missmutiges Lächeln. »Und das sagen ausgerechnet Sie ?« Er schüttelte den Kopf und senkte seinen Blick wieder.
Lena witterte ihre Chance, sich ihm ein weiteres Stück zu nähern. Noch zwei Armlängen. »Wie meinen Sie das?«, machte sie weiter, um ihn am Reden zu halten. Solange er redete, sprang er nicht. So weit zumindest die Theorie.
Der Professor lachte seltsam auf, und die Entschlossenheit, die in seinem Blick lag, beunruhigte Lena.
»Sind wir nicht alle irgendwie Opfer?«, murmelte er selbstvergessen, den Blick weiterhin in den Abgrund gerichtet.
Lena blickte ihn stirnrunzelnd an und nickte. »Ich schätze, da ist was dran.« Sie beugte sich gefährlich weit über die Brüstung und streckte die Hand nach ihm aus. Doch Wallau rührte sich nicht, sondern starrte mit aufgerissenen Augen weiter nach unten.
»Nehmen Sie meine Hand«, forderte Lena ihn auf, »und ich verspreche Ihnen, alles wird gut.«
Jetzt wandte er den Kopf nach ihr um. »Was wissen Sie schon vom echten Leben.«
Lena hielt den Atem an und stieg vorsichtig über die Brüstung. »Ach, kommen Sie – das würden Sie nicht ernsthaft zu einem Ihrer Patienten sagen«, sagte sie, mehr, um ihn aus der Reserve zu locken. Obwohl sie sich in gut fünfzehn Metern Höhe befand, wagte sie es nicht, den Blickkontakt zu dem Psychiater auch nur für den Bruchteil einer Sekunde zu unterbrechen.
»Professor Wallau, nehmen Sie meine Hand«, redete sie mit gedämpfter Stimme auf ihn ein und zwang sich zu einem sanften Lächeln. Ihre Entfernung zu Wallau betrug jetzt weniger als eine Handbreit.
Der Professor senkte den Blick auf ihre Hand. Und gerade, als sie befürchtete, er würde springen, hob er zögerlich seine Hand. Lena sah, wie er zitterte, während er einen winzigen Schritt auf sie zu machte. Er war ihr jetzt so nahe, dass Lena sein herbes Aftershave riechen konnte. »Sehr gut, Sie machen das sehr, sehr gut«, redete sie behutsam auf ihn ein. »Sehen Sie mich an und schauen Sie nicht nach unten!« Der Abstand zwischen ihnen betrug jetzt nur noch wenige Zentimeter. »Kommen Sie, Sie schaffen das!«
Plötzlich geriet Wallau ins Straucheln. Er rutschte ab. Schaffte es aber gerade noch, sich an der Stuckverzierung festzuhalten. Lenas Herz setzte einen Schlag aus, als sie sah, wie der Mann über dem Abgrund baumelte und verzweifelt versuchte, mit den Füßen Halt zu finden. Seine Brille rutschte ihm von der Nase
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