Seidenfpade
Seidenstraße entlehnt war. Nicht weit davon stand ein Glasbehälter mit einem Fetzen antiker Baumwolle, den sie in einer geplünderten Anasaziruine gefunden hatte. In einem Schaukasten an einer anderen Wand befand sich ein moderner japanischer Kimono in leuchtenden Grün-, Blau-und Weißtönen.
Gegenüber prangte ein zarter k’ossu -Wandteppich aus der späten Ming-Periode, der den Flug eines Phönix zeigte. Die Farben strahlten wie ein frischer Regenbogen. Diese Seide hatte sie sechs Monatsgehälter gekostet. Für Dani wäre auch der dreifache Preis noch eine einmalige Gelegenheit gewesen.
Stumm und dennoch beredt erzählten ihr die Gewebe von einem Heer von Frauen, die über die Jahrhunderte hinweg gesponnen, gewebt, geschwatzt und gelacht hatten, während sie etwas schufen, das sie selbst, ihre Kinder, ihre Enkel und Urenkel überdauern würde ... Generationen von Menschen, die Kunstwerke aus einzelnen Fäden schufen, die Vollendung und Schönheit gleichsam aus dem Nichts erstehen ließen.
Wie jene kurzen Augenblicke in Aruba, dachte Dani.
Müde rieb sie ihre brennenden Augen und fragte sich, warum das Schicksal ihr den falschen Mann untergejubelt hatte.
Ein Keuschheitsgelübde.
Zorn und Scham wallten in Dani auf. Wenn er früher damit herausgerückt wäre, hätte ich mich nicht so bloßgestellt. Zur Hölle mit ihm!
Und mit mir auch. Wie konnte ich nur so blöd sein!
Angestrengt konzentrierte sie sich wieder auf die Gegenwart. Der Herbst war zu Ende gegangen, während sie sich in den Tropen aufhielt. Ein eisiger grauer Regen aus den Appalachen fegte nun durch die Hauptstadt. Der Winter, streng und asketisch wie ein Kloster, übernahm für die kommenden Monate das Regiment.
Der Gedanke an Klöster und Mönche ließ Dani zusammenzucken.
Das Telefon klingelte und riß sie aus ihren Gedanken. Erleichtert hob sie den Hörer noch vor dem zweiten Klingeln ab.
»Danielle Warren«, meldete sie sich.
»Immer noch dran, Mädchen?«
Beim Klang von Gillespies tiefer Stimme warf Dani einen schuldbewußten Blick auf den vor ihr liegenden Papierstapel.
»Ich arbeite tatsächlich grade«, sagte sie. »Puh, was für ein Berg!«
»Das ist nichts im Vergleich zu den Mengen, die Shane aus Aruba mitgebracht hat. Cassandra und vier andere Übersetzer brüten rund um die Uhr darüber.«
»Haben Sie die Seide schon gefunden?« fragte Dani erregt.
»Nein.«
»Verdammter Mist!« Sie ließ ihrer Enttäuschung freien Lauf.
»Amen. Wie steht es mit Ihrem Netzwerk von Textilenthusiasten?«
»Keiner hat was von einem antiken, außergewöhnlichen indischen, tibetischen oder chinesischen Seidenstoff gehört, der zum Verkauf stünde. Oder sie wissen davon und reden nicht.«
»Verdammter Mist!«
»Ist das die Stelle, an der ich jetzt mit >Amen< dran bin?« meinte Dani.
Gillespie lachte.
»Shane hatte auch damit recht«, bemerkte er.
»Womit?«
»Er sagte, egal wie brenzlig es auch wurde, Sie brachten ihn zum Lachen.«
Dani schloß die Augen und kämpfte die Röte nieder, die in ihre Wangen schießen wollte.
»Wissen Sie, daß er tausend Tode starb, während er zusah, wie Sie den Schlüssel im Wagenschloß umdrehten?« fragte Gillespie.
Dani stockte der Atem. »Das hat man ihm nicht angemerkt.«
»Sie sind eine phantastische Partnerin. Shane singt nichts wie Lobeshymnen auf Ihren kühlen Kopf.«
»Oh, das kann ich mir vorstellen. Deshalb habe ich mich ja auch wie ein Eisen um Mr. Crowes steifen Nacken gefühlt.«
Gillespie räusperte sich. Oder vielleicht lachte er auch, überlegte Dani.
»Ist Boston schon rausgekommen?« erkundigte sie sich.
»Wir haben ihn vorletzte Nacht rausgeholt.«
»Gott sei Dank!« atmete sie auf. »Shane fürchtete schon, er würde sich über Katja hermachen.«
»Hätte er auch beinahe getan«, berichtete Gillespie. »Sein Bruder hat es nicht geschafft.«
»Was?«
»Der Museumswächter. Die Harmony hat ihn vor uns erwischt ...«
Dani starrte aus dem Fenster auf die verregnete Umgebung und verbot sich jegliche Vorstellung der Konsequenzen für das Opfer.
»Dani? Sind Sie noch dran?«
»Jaha.«
»Gut. Da ist noch ein Paket an Sie unterwegs. Sagen Sie uns, was Sie davon halten. Es ist das Neueste, was unsere Jungs aus dem Internet gefischt haben.«
Dani konnte ein Stöhnen nicht ganz unterdrücken.
»Seit drei Tagen kämpfe ich mich durch Memos, beantworte eine Million neugieriger und unhöflicher Fragen von Studenten, Kunsthändlern und Insidern«, beschwerte sie sich. »Und jetzt
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