Sein Bruder Kain
sicheres Auftreten.«
»Nicht gerade viel«, meinte Evan mit besorgtem Blick. »Sie sagten, sie sei Anfang Dreißig und doch wahrscheinlich unverheiratet? Ist das nicht seltsam für eine so charmante junge Frau? Könnte sie Witwe sein?«
»Ich weiß nicht.« Monk war in ihrer Gesellschaft zu glücklich gewesen, um sich mit solchen Fragen beschäftigt zu haben. Jetzt wurde ihm klar, was für ein unverzeihlicher Fehler das gewesen war.
»Ich nehme an, sie sprach völlig korrekt?« fuhr Evan fort.
»Das würde die Sache wenigstens auf eine gewisse Klasse beschränken.«
Am Nebentisch nahm, Hand in Hand und lachend, ein Pärchen Platz.
»Ja… sie kommt aus einer guten Familie«, pflichtete Monk ihm bei.
»Aber sie ist wohl kaum eine Dame«, fügte Evan mit einem plötzlichen Anflug von trockenem Humor hinzu. »Das hilft uns alles nicht viel weiter. Ich werde mit den Fällen anfangen, in denen jemand gehängt wurde oder im Gefängnis starb und bei denen irgendwie eine Frau, auf die diese allgemeine Beschreibung paßt, mit im Spiel war, eine Verwandte oder enge Freundin, irgendein weiteres Opfer der Tragödie.«
»Natürlich könnte es auch jemand gewesen sein, den ich nicht dingfest gemacht habe«, sagte Monk, nachdem ihm diese Idee gerade erst gekommen war. »Vielleicht ein Fall, den ich nicht gelöst habe, und das Verbrechen ist ungesühnt geblieben. Vielleicht glaubt sie, ich hätte der Gerechtigkeit nicht Genüge getan.«
Evan erhob sich und beugte sich ein wenig über den Tisch.
»Machen Sie die Sache nicht schwieriger, als sie vielleicht ist«, sagte er leise. »Fangen wir bei den offensichtlichen Fällen an. Außerdem«, meinte er lachend, »glaube ich nicht, daß Sie viele ungelöste Fälle hatten, nach allem, was ich von Ihnen so höre.«
Monk sagte nichts und sah Evan mit ausdruckslosem Gesicht nach, während dieser das Lokal verließ und sich an der Tür nur noch einmal kurz umdrehte, um ihm mit einer kaum wahrnehmbaren Geste Mut zuzusprechen.
Monk verbrachte den Nachmittag zusammen mit der Polizei, die weiterhin den Fluß um die Isle of Dogs und die andere Seite von Bugsby's Reach absuchte und sich anschließend die Docks und Hafeneinfahrten, die Elendsviertel und Gassen entlang des Wassers vornahm. Die Polizisten suchten sogar in einigen Schweineställen, Jauchegruben und Abfallhaufen. Sie fanden viele Dinge, die schmutzig, grausig oder tragisch waren, einschließlich zweier Toter, aber keiner der beiden konnte Angus Stonefield gewesen sein. Eine Leiche war die eines Kindes, die andere die einer Frau.
Als es dunkel wurde, ging Monk, der Verzweiflung nah, nach Hause. Er hatte noch nie eine solche Anhäufung menschlichen Elends gesehen. Er war müde, sein Körper schmerzte, und er war bis auf die Knochen durchgefroren. Seine Füße waren durchnäßt und seine Zehen völlig empfindungslos. Er würde nicht noch einmal mit der Polizei auf Suche gehen. Widerstrebend spürte er in einem bisher unentdeckten Teil seiner selbst einen tiefen Respekt für die Männer, die sich mit solchen Dingen Tag um Tag auseinandersetzen mußten und doch nicht den Mut verloren, ihre Freundlichkeit und Hoffnung. Das einzige, was er fühlte, war Hilflosigkeit und Zorn; da er aber nichts ändern konnte, sagte sein Verstand ihm, daß es nutzlos war, sich aufzulehnen, aber sein Magen verkrampfte sich dennoch.
Am folgenden Morgen erwachte er schon sehr früh, lange bevor es hell wurde. Er blieb im Bett liegen und sann darüber nach, was er tun konnte, um Drusilla Wyndham zu finden. Es würde wahrscheinlich weder seinen Ruf noch seine Existenz retten, aber er mußte eine Antwort auf die Ängste und die Dunkelheit in sich finden. Was für ein Mann war er? Dieser Wahrheit konnte er nicht entrinnen. Und es geschah immer häufiger, daß die Furcht vor den Antworten schlimmer war als die Antworten selbst, weil seine Phantasie alles überstieg.
Um sieben Uhr stand er auf und nahm sein Frühstück ein, bevor er kurz vor acht das Haus verließ und fast eine Stunde lang spazierenging, den Kopf nachdenklich gesenkt, ohne andere Fußgänger wahrzunehmen oder die Kutschen, die nur wenige Schritte von ihm entfernt übers Pflaster holperten, die Müßiggänger, die Straßenverkäufer, die Straßenkehrer, gut gekleidete Büroangestellte, die zur Arbeit eilten, elegante Lebemänner und Spieler, die von ihren nächtlichen Vergnügungen zurückkehrten.
Schließlich nahm er kurz vor neun einen Hansom zur Geographischen Gesellschaft und betrat
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