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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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wollte: Warum gab sie ihren Beruf dann gleich ganz auf? Die Antwort lautete: Sie hatte keine an-dere Möglichkeit. Weder Teilzeitarbeit noch eine Beurlaubung ohne Bezahlung über mehrere Monate oder Jahre hinweg waren für Beamtinnen und andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst möglich, auch nicht in Sonderfällen wie diesem. Die Richterin musste um Entlassung aus dem Staatsdienst bitten. Nach einigen Jahren zurückkehren konnte sie nicht, weil sie dann die Altershöchstgrenze für den Eintritt in den öffentlichen Dienst überschritten haben würde. So stand Frau H. beruflich vor dem Nichts. Ihre Ausbildung und Erfahrung wurden von einem Moment zum anderen wertlos. Eben noch hatte sie mitten im Berufsleben gestanden, mit bester Aussicht auf eine weiterhin interessante Karriere. Nun war sie jeglicher Perspektive beraubt.
    Ich war außer mir. In was für einem Staat lebten wir? Wie konnte es sein, dass dieser Staat seine menschlichen Ressourcen derart verschwendete? Konnte und wollte die Bundesrepublik Deutschland sich das leisten? Nein, das durfte nicht sein, davon war ich überzeugt. Und ich beschloss: Das wird sich ändern.
    Etwa drei Jahre später hatte ich das Ziel erreicht: In den Jahren 1969 und 1970 führten nach und nach alle Bundesländer die Teilzeitarbeit und den Familienurlaub für Beamtinnen und Richterinnen ein. Das Rahmengesetz, das dieser Neuerung zugrunde lag, wird in Fachkreisen bis heute die »Lex Peschel« genannt.
    Seit 1956 gehöre ich dem Deutschen Juristinnenbund an, einer Vereinigung von Juristinnen, die in den verschiedensten Berufen arbeiten. Gemeinsam nutzten sie damals und nutzen bis heute ihre vielfältigen beruflichen Möglichkeiten und Erfahrungen, um gesellschaftliche Fortschritte auf den Weg zu bringen. Vor dem Juristinnenbund hielt ich 1966 einen Vortrag über die Ungerechtigkeit, dass Frauen im öffentlichen Dienst gezwungen waren, auf Kinder zu verzichten oder die Kindeserziehung vollständig in fremde Hände zu geben oder – wenn dies nicht möglich war – aus dem Berufsleben auszuscheiden. Sofort waren die Juristinnen sich einig, dass dieser Zustand, der den Frauen, ihren Familien und dem Staat schadete, geändert werden musste. Was war das für eine Gesellschaft, in der Frauen, die Kinder bekommen wollten, ihren Beruf dafür aufs Spiel setzen mussten?
    Innerhalb des Juristinnenbundes gründete ich eine Kommission Beamtenrecht, in der wir die Situation genauer analysierten und Auswege erarbeiteten. Parallel begann der Juristinnenbund, die Trommel zu rühren für unser Anliegen. Unser Ziel: Vereinbarkeit von Staatsdienst und Kinderbetreuung, das heißt eine gesetzlich garantierte Möglichkeit der Teilzeitarbeit und des Familienurlaubs für Beamtinnen und andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Wir entwickelten einen Gesetzent-wurf. Ich hielt einen Vortrag nach dem anderen über das Thema.
    Wohin ich auch kam, mit wem ich auch sprach: Ich stieß auf männlichen Widerstand. Da waren einerseits die unqualifizierten Kommentare, die sich damit beschäftigten, dass eine teilzeitarbeitende Richterin unmöglich morgens Recht sprechen und nachmittags Windeln wechseln könne. Manche Männer sprachen deutlich aus, was sie dachten: »Wir wollen keinen Bratkartoffelgeruch in unseren Räumen! Wir wollen keinen Windelgestank und kein Babygeschrei!« Da waren andererseits die etwas qualifizierteren, aber deshalb nicht akzeptableren Kommentare, wonach unser Vorhaben verfassungswidrig sei. Die Behauptung der Verfassungswidrigkeit wird oft als Keule gegen unwillkommene Gesetzesänderungen verwendet. Es ist ein Totschlagargument, denn kein Jurist kann sagen: »Verfassungswidrig? Das kümmert mich nicht!« Auch der damalige Bundesinnenminister Ernst Benda vertrat die Auffassung, unser Reformziel sei verfassungswidrig. Im Jahr 1971 wurde er Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
    In Artikel 33, Absatz 5 des Grundgesetzes (GG) heißt es, das Recht des öffentlichen Dienstes sei »unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln« (die Wörter »und fortzuentwickeln« wurden allerdings erst im Jahr 2006 ergänzt). Zu diesen »hergebrachten Grundsätzen« gehört es, dass Beamte hauptberuflich und auf Lebenszeit zu beschäftigen sind. Die Kritiker unserer Reformidee vertraten die Auffassung: Wenn eine Frau ihre Arbeitskraft auch oder sogar zeitweilig gänzlich der Familie zur Verfügung stellt, könne sie ihre Pflicht aus Artikel

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