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Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)

Titel: Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lore Maria Peschel-Gutzeit
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geht, an Ort und Stelle anzuschauen. Gebäude und Handwerkerleistungen konnte ich mir noch so genau beschreiben lassen, wir konnten vor Papier berstende Aktenordner anlegen – etwas völlig anderes war es, das Ganze vor Augen zu haben. So kletterte ich durch Rohbauten, kroch durch Keller, stieg über Dächer, schaute mir Risse im Mauerwerk an und Treppen, die einige Zentimeter vor dem Fußboden, zu dem sie führen sollten, aufhörten. Das Thema faszinierte mich, die Jahre waren interessant und lehrreich, auch für die Zukunft. Noch als Justizsenatorin habe ich oft Ortsbegehungen gemacht, einmal bin ich sogar auf ein Gefängnisdach gestiegen.
    Ein anderes spannendes Feld waren die internationalen Ehescheidungen, für die ich viele Jahre an der IPR-Kammer zuständig war, der Kammer für internationales Privatrecht. Wurden gemischtnationale Ehen geschieden, mussten wir deutsches und ausländisches Recht anwenden. Hätten wir die Eheleute nur nach deutschem Recht geschieden, hätte der ausländische Ehepartner in seinem Heimatland unter Umständen den Familienstand eines Verheirateten behalten. Um solche »hinkenden Ehescheidungen« zu vermeiden, mussten wir auch ausländisches Recht prüfen und anwenden. Relativ einfach war das bei männlichen Angehörigen von Staaten, in denen islamisches Recht galt, bei männlichen Persern zum Beispiel. Sie mussten nur dreimal vor männlichen Zeugen »Talaq« zu ihrer Ehefrau sagen, mussten sie also verstoßen, und waren dann nach ihrem Heimatrecht geschieden. Komplizierter war oft die zusätzliche Scheidung nach deutschem Recht, da manche Männer islamischen Glaubens nicht einsehen wollten, dass ihr »Talaq« gegenüber einer deutschen Frau zur Scheidung für diese nicht ausreichte.
    Ich beschäftigte mich damals nicht nur mit ausländischem Recht, sondern auch damit, wie das Recht im jeweiligen Heimatland gehandhabt wurde. So erhielt ich hochinteressante Einblicke in juristische, soziologische und kulturelle Gegebenheiten. Es gab viele Länder, die noch keine Scheidung kannten. Eine Deutsche, die mit einem Italiener verheiratet war, konnte geschieden werden, der Italiener blieb mit ihr verheiratet. Solche Ergebnisse waren für alle Seiten unbefriedigend. In anderen Fällen erreichten wir Erstaunliches. Einmal schieden wir die Ehe eines norwegischen Walfangkapitäns, der in Südafrika seinen offiziellen Wohnsitz hatte und mit einer US-Amerikanerin aus New York verheiratet war. Sie waren sich einig in ihrem Scheidungswillen und hatten es schon bei verschiedenen Gerichten auf zwei Kontinenten versucht, stets vergeblich. Nach der jeweiligen Rechtslage verhinderten formale Gründe die Scheidung. Wir fanden einen Weg.
    An die berühmte gläserne Decke, die Frauen – aber auch manchen Männern – so oft im Weg ist, konnte ich während meiner zehnjährigen Tätigkeit am Landgericht nicht stoßen, denn ich arbeitete dort immer auf derselben Stufe. Aber einmal rannte ich gegen eine Art gläserne Wand: Als es so schien, als wolle der Vorsitzende der Pressekammer mich aufgrund meines Geschlechts als Beisitzerin ablehnen. Zum Glück gelang es mir, schnell eine Tür in der gläsernen Wand zu finden und zu öffnen.
    Als ich an der Pressekammer arbeitete, meldete mich der für die Personalverwaltung zuständige Präsidialrichter zur Erprobung am Oberlandesgericht an – die Erprobungsphase war der übliche und notwendige Schritt vor der Beförderung. »Ich habe Sie angemeldet«, erklärte mir der Präsidialrichter, »aber es kann dauern, bis Sie genommen werden. Kein Senat zeigt Interesse daran, eine Frau aufzunehmen.« Die Senate am OLG entsprechen den Kammern am Landgericht, es sind Spruchkörper mit einem Vorsitzenden Richter und in der Regel zwei Beisitzern.
    Entgegen der Prophezeiung des Präsidialrichters musste ich nicht lange warten. Während meiner Zeit an der Pressekammer wurde ich schwanger, wenige Wochen nach der Geburt meines dritten Kindes kam ich 1970 direkt ans Oberlandesgericht. »Jetzt hat sich doch ein Senat bereit erklärt, Sie zu nehmen«, hatte mir der Präsidialrichter eröffnet. »Aber ich sag es Ihnen gleich«, schränkte er ein, »es ist der Kostensenat.« – »Na und?«, entgegnete ich. Der Kostensenat war unbeliebt, das Kostenrecht ist eine sehr trockene Materie. Aber das störte mich nicht. Der Kostensenat war meine Chance auf Beförderung. Selbstverständlich nahm ich sie wahr.
    Nach bestandener Erprobung behielt man mich gleich dort, was nicht den Konventionen

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