Silbernes Band (German Edition)
Dreizimmer-Wohnung im zweiten Stock einfach, aber gemütlich eingerichtet. Heiðar fühlte sich hier immer sehr wohl, es war ein sicherer Hort gewesen in den schwierigen Jahren seiner Jugend, bevor er wusste, was er war. Als er nicht verstand, warum er diese Unrast spürte und diesen ständig wachsenden Durst nach Blut.
Er ging durch die verlassenen Räume, die Kristín nie mehr betreten würde. Im Wohnzimmer stand ihr Sessel, in dem sie so oft gesessen hatte, um zu stricken oder zu lesen. Es gab eine Bücherwand, ein altes, hellbraunes Cord-Sofa, den neuen Fernseher, den sie erst vor Kurzem gekauft hatte. Heiðar konnte noch immer ihren Duft wahrnehmen, obwohl sie seit Wochen nicht mehr hier gewesen war. An der Wand in der Küche tickte die rote Plastikuhr. Aber da war niemand mehr, der wissen wollte, wie spät es war. Er strich über die verblichene Tischplatte. Hier hatten sie gesessen, als Kristín ihm erzählte, was sein Vater war. Und davor und danach hatten sie unzählige Male gemeinsam zu Abend gegessen. Die Küche war blitzblank, seine Mutter war immer sehr ordentlich gewesen. Niemals wäre sie ins Krankenhaus gefahren, ohne ihre Wohnung aufzuräumen.
Im Schlafzimmer war ihr Duft am stärksten. Heiðar öffnete den Kleiderschrank und strich über die Sachen, die darin hingen. Er fühlte Tränen aufsteigen, verliess deshalb rasch den Raum und ging über den Flur in sein ehemaliges Zimmer. Unterm Fenster stand sein Bett, auf dem verblichenen Bettüberwurf sass der uralte Teddy. An der einen Wand der zweitürige Schrank, gegenüber sein wackeliger Schreibtisch und daneben die Kommode, in der er früher seine Spielsachen aufbewahrt hatte. Er öffnete die oberste Schublade. Nachdem er ausgezogen war, hatte Kristín verschiedene andere Dinge hier drin verstaut: Schreibpapier, Klebeband, Bastelmaterial, Strick- und Nähzeug, Tischdecken und Bettwäsche.
In der untersten Schublade lag eine alte Schuhschachtel, sonst nichts. Er nahm sie heraus und öffnete sie. Die Schachtel enthielt jede Menge Briefe, bestimmt mehr als dreissig Stück. Er erkannte Fionns gepflegte Handschrift, blätterte durch die Briefumschläge und besah sich die Poststempel. Der älteste Brief stammte aus dem Jahr 1978 und war in Reykjavík abgestempelt. Den letzen Brief hatte Fionn im März dieses Jahres geschrieben und in London aufgegeben. Heiðar nahm den ersten Brief aus dem Umschlag. Das handgeschöpfte Papier war bereits leicht vergilbt, die schwarze Tinte etwas verblasst, an zwei Stellen gar verwischt, wo Kristín ihre Tränen zurückgelassen hatte. Heiðar überflog den Inhalt. Fionn hatte diese Zeilen geschrieben, nachdem Kristín ihn verlassen hatte.
Geliebte Kristín
Bitte verzeih mir, was ich Dir zugemutet habe. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als alles rückgängig zu machen, damit Du mir hoffentlich nochmals Gelegenheit gibst, meine Liebe zu beweisen.
Leider kann ich mein Wesen nicht verleugnen. Aber ich kann Dir all meine Liebe und Fürsorge geben.
Ich bitte Dich inständig, zu mir zurückzukehren. Selbst wenn Du nicht länger meine Gefährtin sein willst, so möchte ich mich dennoch um Dich und das Kind kümmern. Ich fühle mich verantwortlich für Euch. Bitte gestatte mir, meine Verantwortung wahrzunehmen.
So, wie ich Dich liebe – und immer lieben werde – liebe ich auch das Kind. Lass nicht zu, dass es ohne seinen Vater aufwachsen muss!
Ich warte auf Dich. Dort, wo alles begann.
Mein Herz, meine Liebe. Für immer.
Fionn
Die schwarze Tinte begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Rasch legte er den Brief beiseite und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Es wäre leichter, die Vergangenheit zu akzeptieren, wenn er wüsste, dass sein Vater Kristín schlecht behandelt hatte, oder wenn er sich nicht um sie beide gekümmert hätte. Seine Mutter hätte Fionn bloss ein Zeichen geben müssen, und sein ganzes Leben wäre völlig anders verlaufen. Hätte, wäre... Er packte diese sinnlosen Worte und schleuderte sie von sich. Es änderte nichts, der Vergangenheit nachzutrauern. Er musste nach vorn blicken.
Heiðar legte den Brief in den Umschlag zurück. Er fand es nicht richtig, diese intimen Zeilen zu lesen. Dennoch plagte ihn die Neugierde. Er wollte zu gern wissen, ob auch die anderen Briefe ähnlichen Inhalts waren. Nach kurzem Zögern zog er den neuesten Umschlag heraus. Auch in diesem Brief bat Fionn Kristín, zu ihm zurückzukehren. Auf einem separaten Blatt
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